Das kommt auf die Erwartungshaltung an. Wer sich alleine in dem Wissen, dass Steve Harris vier Longtracks beigesteuert hat, vor Freude in die Hose macht, sollte eine ganze Ladung neuer Beinkleider bereit legen. Wer kurze MAIDEN-Hymnen liebt, könnte mit dem bereits 2019 unter der Aufsicht von Langzeit-Produzent Kevin Shirley fertiggestellten Album seine Probleme haben: Nur drei Tracks liegen unterhalb der Sieben-Minuten-Marke.
Überraschend ist das nicht. IRON MAIDEN führen ihre vor vielen Jahren begonnene Ausrichtung in progressive Gefilde konsequent fort, statten längere Nummern mit Intro, zahlreichen Instrumentalpassagen und Outro aus. Dabei geht das Sextett nicht so verkopft zu Werke, wie es teilweise in den Longtracks auf "The Final Frontier" oder dem direkten Vorgänger "The Book Of Souls" der Fall war. Stattdessen bringen die Briten einige überraschende Ideen unter, die aus "Senjutsu" trotz aller Routiniertheit ein sehr frisches Album machen — bei mehr als 40 Jahren im Musikgeschäft keine Selbstverständlichkeit.
Das stärkste Eröffnungs-Trio seit "Brave New World"
Mit dem überlangen Titeltrack erwartet die Fans gleich zu Beginn eine faustdicke Überraschung in Form eines völlig untypischen MAIDEN-Openers. Rollende Drums wecken (ungute) Erinnerungen an "Satellite 15", doch statt zusammenhangloser Krachorgie entpuppt sich "Senjutsu" als düster-majestätische Schlachthymne mit doomigem, monströsem Grove, in der auf bedrohlich wirkende Strophen ein epischer Gänsehaut-Chorus folgt.
Die in über achteinhalb Minuten aufgebaute Spannung wird mit dem packenden "Stratego", einer galoppierenden Hymne, aufgelöst. Gitarrenharmonien untermalen Dickinsons Vocals in den Strophen, der geniale, eingängige Chorus wird wie der Titeltrack von leicht schrillen Keyboards begleitet.
Schon beim ersten Hören gefiel die erste Single "Writing On The Wall" deutlich besser als vorherige Vorab-Auskopplungen wie "El Dorado" oder "Speed Of Light". Nach einer einsamen Westerngitarre betreten IRON MAIDEN mit bluesigen Akkorden und stampfenden Beats Neuland, der frische Country-Touch zieht sich durch den kompletten Song. Nach dem famosen Einstieg zeigt sich Bruce Dickinson in den treibenden Strophen von seiner besten Seite, die vielversprechende Bridge setzt sich wie der Chorus sofort in den Ohren fest. Beim gefühlvollen Gänsehaut-Solo von Adrian Smith laufen wohlige Schauer über den Rücken. Es sticht nicht nur auf "Senjutsu" heraus, sondern ist eines seiner besten und knackigsten Soli überhaupt.
Auch wenn die vorherigen Alben ihre Momente und Hymnen hatten: Mit "Senjutsu", "Stratego" und "Writing On The Wall" gelingt IRON MAIDEN des beste Eröffnungs-Trio seit "Brave New World".
Ausladend episch, kurz und knackig, düster-balladesk – IRON MAIDEN gonna get you!
"Lost In A Lost World", der erste der vier Harris-Longtracks, beginnt mit atmosphärischen Akustikgitarren und geisterhaft wabernden Dickinson-Vocals, inklusive leiser Ah-ah-ahs. Zu Beginn erinnert die dichte Stimmung an "Seventh Son Of A Seventh Son", bevor der Neuneinhalbminüter mit einer klassischen MAIDEN-Struktur Fahrt aufnimmt. In der grandiosen Bridge untermalt eine markante Gitarrenlinie Dickinsons Vocals, mit einem abrupten Tempowechsel erklingt der eingängige Chorus, der eindeutig an die Blaze-Bayley-Ära erinnert, allerdings den allerletzten Funken Durchschlagskraft vermissen lässt. Die schöne Überleitung ins Ende hat mit seinen ausladenden Instrumentalpassagen was von "Brave New World".
Mit knapp über vier Minuten Spielzeit stellt "Days Of Future Past" die kürzeste und knackigste Nummer des Albums dar. Die markanten Gitarren und düstere Stimmung erinnern latent an "Somewhere In Time", die kurze Verschnaufpause hat was von dem Break in "Wildest Dreams". Der Chorus ist kurz, eingängig und gut, neben der grandiosen Gitarrenarbeit imponiert erneut Bruce Dickinson.
Der Einstieg in "The Time Machine" erinnert an "The Talisman", Dickinson als zeitreisender Storyteller ("You cannot imagine what I've seen and done") weckt Erinnerungen an die ebenfalls erzählenden Vocals in "The Reincarnation Of Benjamin Breeg". Der Song gefällt mit überraschend positiver Atmosphäre im Midtempo, bevor urplötzlich das Tempo angezogen wird und wir mitten in einer typisch galoppierenden Hymne mit fabelhaften Widerhaken-Melodien stecken, die sofort ins Ohr gehen. Ein richtiger Chorus ist nicht vorhanden, das Gitarrensolo nach dem Break klingt ungewohnt krachig und dissonant.
Nach "Writing On The Wall" und "Days Of Future Past" folgt die dritte vom Duo Smith/Dickinson komponierte Nummer. Das von Meeresrauschen umrahmte "Darkest Hour" ist eine zutiefst melancholische und bedrückende (Halb-)Ballade mit markanten Gitarren und mystischer Stimmung. Recht untypisch für IRON MAIDEN, weckt sie leichte Erinnerungen an "Wasting Love", würde mit den im Vordergrund stehenden Vocals aber eher auf eine DICKINSON-Soloscheibe wie "Accident Of Birth" passen. Der Sänger liefert erneut eine leidenschaftliche Performance ab, das ausgedehnte, sehnsuchtsvolle Gitarrensolo klingt fabelhaft.
Drei Steve-Harris-Longtracks zum Abschluss
Schon bei den ersten Tönen wirkt "Death Of The Celts" wie ein Nachfolger von "The Clansman" mit ganz ähnlichem Aufbau: Zu Beginn fesselt das prägnante Bassspiel, dann folgt ein Midtempo-Part mit schrammelnden Gitarren und einem recht verhaltenen Dickinson, bevor sich im Mittelteil jeder Sechssaiter austoben darf. Kurzzeitig wird es mit sanften Gitarren und verstärktem Keyboard-Einsatz sehr zurückhaltend, beinahe harmlos. Was fehlt, ist ein fesselnder Chorus oder ein Pendant zu den markanten "Freedom!"-Rufen im Quasi-Vorbild von "Virtual XI". Trotz Abwechslungsreichtum über zehn Minuten Länge bleibt "Death Of The Celts" merkwürdig verhalten und kommt ohne richtigen Aha-Effekt aus. Ob die Nummer einen ähnlich legendären Status erlangen kann wie "The Clansman", darf bezweifelt werden.
Das mit 12 1/2 Minuten längste Harris-Epos "The Parchment" beginnt mit einer orientalisch angehauchten Melodie, die sofort Assoziationen zu "Powerslave" weckt und auch im vollverstärkten Einsatz aufgenommen wird. Erneut im Midtempo angesiedelt, greift wieder eine Gitarre den Gesang in den Strophen auf, bevor nach dem Einsatz mächtiger Riffs wohlige Schauer über den Rücken laufen. Harris und McBrain geben unbarmherzig stoisch den Takt vor, jeder der drei Sechssaiter nutzt die Bühne für ausladende Soli. Erst nach sechseinhalb Minuten kehrt Dickinson zurück, und was an typischen MAIDEN-Harmonien nur im Hintergrund zu erahnen war, wird plötzlich auf einmal abgefeuert. "The Parchment" erschließt sich erst nach einigen Durchläufen, zündet dann aber umso mächtiger und überrascht insbesondere mit seiner zweiten Hälfte.
Mit "Hell On Earth" setzt Harris am Ende noch ein Ausrufezeichen. Erneut mit prägnantem Bassspiel, wohl dosierten Gitarrenlicks und Keyboard-Orchestrierung beginnend, baut das Epos schon zu Beginn eine sehr dichte Atmosphäre auf. Nach dem Einsatz des treibenden Rhythmus' erklingen eingängige Leads, wie sie nur IRON MAIDEN schreiben können. Die an "Where The Wild Wind Blows" erinnernde Melodie wird laufend neu arrangiert und sorgt mit den eindringlichen, erst nach dreieinhalb Minuten einsetzenden Vocals für wahre O(h)rgasmen. Nach einem Tempowechsel entlässt das an "Out Of The Silent Planet" erinnernde Ende sehr harmonisch aus dem 17. (und hoffentlich nicht letzten) Studioalbum.
"Senjutsu": Mit leichten Abstrichen ein bärenstakres IRON-MAIDEN-Album
Auffällig sind die häufigen Keyboard-Einsätze, die ich mir an ein paar Stellen etwas zurückhaltender gewünscht hätte. Auch der Anteil an Akustikgitarren ist recht hoch, sie besitzen jedoch wie die Leads in den Strophen hauptsächlich eine untermalende Funktion. An zahlreichen Stellen finden sich Reminiszenzen an jüngere und ältere MAIDEN-Alben, überraschend häufig an die Mittneunziger-Ära mit Blaze Bayley.
Über weite Strecken handelt es sich um das beste Material seit "Brave New World" — das war es, was ich nach den ersten Songs dachte, und dabei bleibe ich auch gut 20 Hördurchgänge später. Insbesondere die erste Hälfte von "Senjutsu" und das Finale sind bärenstark, in den epischen Longtracks schwächeln IRON MAIDEN allerdings ein wenig, während "Death Of The Celts" erst gar nicht recht zünden mag.
Das könnte sich mit weiteren Durchgängen bessern — Zeit muss man "Senjutsu" definitiv geben. Dann offenbart sich früher oder später mit Überraschungsmomenten wie dem ungewöhnlichen Opener, dem Country-Flair in "Writing On The Wall" oder dem stoischen Rhythmus in "The Parchment" und altbekannten, liebgewonnenen IRON-MAIDEN-Trademarks die unbestreitbare Güte dieses Albums.
Man darf weiterhin voller Stolz und mit gereckter Faust skandieren: Up The Irons!
"Senjutsu" Trackliste:
01. Senjutsu (Smith/Harris) 8:20
02. Stratego (Gers/Harris) 4:59
03. The Writing On The Wall (Smith/Dickinson) 6:13
04. Lost In A Lost World (Harris) 9:31
05. Days Of Future Past (Smith/Dickinson) 4:03
06. The Time Machine (Gers/Harris) 7:09
07. Darkest Hour (Smith/Dickinson) 7:20
08. Death Of The Celts (Harris) 10:20
09. The Parchment (Harris) 12:39
10. Hell On Earth (Harris) 11:19
IRON MAIDEN Line-up:
Bruce Dickinson - vocals
Adrian Smith - guitars
Dave Murray - guitars
Janick Gers - guitars
Steve Harris - bass
Nicko McBrain - drums