Geschrieben von Sonntag, 04 November 2012 12:40

Über'n Tellerrand: My Favorite Things VI mit Roger Willemsen

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02.11.2012- Mannheim, Alte Feuerwache: Die ganze Welt ist voll von Musik. OVER YOUR THRESHOLD äußerten kürzlich im Interview, dass sich Einflüsse von Jazz in ihren Stücken finden können, TRIOSCAPES nennt sich gleich eine Jazz Metal Band und gerade vertrackte Songstrukturen wie von BARONESS, BETWEEN THE BURIED AND ME oder auch THE FALL OF TROY sind bei Fans der harten Rockmusik beliebt. Wer sich Jazz als sinnloses Gedudel ohne Sinn und Verstand vorstellt, der weiß wahrlich wenig bis gar nichts über Jazz. Das „ENJOY JAZZ- 14. Internationales Festival für Jazz und Anderes" klärt auf und macht deutlich: Jazz ist nicht tot, er atmet noch!

Beim „ENJOY JAZZ- 14. Internationales Festival für Jazz und Anderes", stattfindend im sogenannten Delta Dreieck Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg, werden dem interessierten Zuhörer verschiedene Veranstaltungen zum Thema Jazz geboten. Das umfasst in erster Linie Konzerte, aber auch spezielle Abende wie den am 2. November 2012: Roger Willemsen legt seine liebsten Jazzplatten zum 6. Mal in der Alten Feuerwache Mannheim auf.

Roger Willemsen als Jazz DJ? Könnte man so nennen, aber natürlich ist es weitaus mehr. Wer ihn kennt, der weiß, dass Roger Willemsen ein Meister der Sprache ist. Redet er doch scheinbar ohne Punkt und Komma, so schafft er es doch, dass der Inhalt stets ankommt, selbst ohne Kenntnis diverser Fremdwörter. So hatten an diesem Abend in der Alten Feuerwache nicht nur Damen und Herren älteren Semesters Platz genommen, um ihm und er Musik zu lauschen, sondern auch zahlreiche junge Menschen saßen auf den unbequemen Stühlen in den viel zu eng gestellten Stuhlreihen. Pünktlich um 20 Uhr betrat Willemsen dann die Bühne und setzte sich an einen Pult, spärlich aber ansprechend ausgestrahlt. Nach einer kurzen Einleitung ging Roger Willemsen auch schon zum ersten, sehr speziellen Künstler über. BurnYourEars Chef Chris sagte mal „Über Musik schreiben, ist wie zu Architektur tanzen". (Die Ehre für diesen geistreichen Spruch gebührt jedoch Steve Martin, gerne zitiert von Künstlern wie u.a. Frank Zappa, GOJIRA oder KETTCAR. - chris) Wie Recht er damit hat, denn eigentlich möchte jeder von uns Rezensenten gerne die Seele einer Platte erfassen und an den Leser weitergeben. Das scheitert daran, dass viele Songs schlichtweg leider keine haben und manchmal daran, diese treffend zu beschreiben. Mit dem „über Musik sprechen" ist es also ähnlich, doch Roger Willemsen beherrscht dies wie kein Zweiter.

sun-raMit einer packenden Begeisterung stimmte er uns vorab auf jedes der gespielten Stücke ein, erzählte Geschichten über die Entstehung, das Leben der Künstler, den Geist der damaligen Zeit, hauchte den Tönen Leben und in erster Linie eine Bedeutung ein. Ob man die anschließende Musik dann mag oder nicht, bleibt noch jedem selbst überlassen. Aber zumindest sollte man Musik generell und die Kraft, die in Musik steckt, danach ansatzweise erfassen können.

Richtig guter Jazz wurde zum größten Teil früher gemacht, so dass wir an dem Abend auf eine Art Zeitreise gingen. Natürlich waren die Menschen früher nicht weniger visionär, und gleich der erste Künstler SUN RA ist das, was man wohl heutzutage einen Freak nennen würden. Selbst in der Jazzszene galt der amerikanische Musiker als umstritten. Eine seiner Erfindungen ist der Cosmic Jazz, im ehesten zu verstehen, wenn man THE MARS VOLTA im Hinterkopf hat. SUN RA selbst war der Meinung, nicht von der Erde sondern vom Saturn zu stammen. Sein Künstlername lehnt sich allerdings an den ägyptischen Sonnengott an und irgendwann begann er auch entsprechenden imposanten Kopfschmuck zu tragen, irgendwie war er wirklich nicht von dieser Welt.

Roger Willemsen machte die Einführung natürlich viel ausführlicher und packender. Als er dann den Song „Plutonian Nights" vom Album „The Nubians of Plutonia" spielte, war das Stück mit einem gewissen Zauber verhangen. Die bizarre Aufmachung des Songs tat ihr übriges. Ein interessanter Künstler, selbst für Jazzverhältnisse extrem renitent gegen Trends, und er setzte mit seinem künstlerischen Schaffen auch wichtige Impulse in der Beatmusik, was wiederum zur Inspiration für psychedelischen Rock führte. Ihr seht, vom Jazz zum Rock und dann letztendlich zum Metal ist es gar nicht so weit.

Roger Willemsen hangelte sich von Stück zu Stück und wechselte auch manchmal die ursprüngliche Reihenfolge, wenn es einfach besser passte. Sein Wissen über Jazz ist beeindruckend, ist es doch nicht so einfach, gute Jazzplatten zu entdecken, da diese Musikrichtung nun wirklich fernab von irgendwelchen Massenmedien stattfindet. Einige Künstler bringen es gerade mal auf zwei Handvoll Kompositionen und haben trotzdem eine Berühmtheit und Beachtung im Genre gefunden. Der Jazz ist glitschig, man kann ihn nicht festhalten und besitzen, viele Songs entstehen an einem Abend und werden nie wieder in dieser Version gespielt. Wie Roger gestern scherzte: "Manche Jazzmusiker nehmen im Leben 300 Platten auf, in einer Auflage von drei bis fünf Stück ...". Präsentiert wurde uns gestern ein entsprechendes Schätzchen – so richtig wurde nicht geklärt, wie Roger Willemsen überhaupt an das gute Stück gekommen war, angeblich von Tauchern, die im kaspischen Meer nach Seegurken fahnden. Ordentlich geknarzt und gerauscht hat es, was dem Lied und der Atmosphäre aber nur zuträglich war.

In der Alten Feuerwache wird immer ein buntes Programm geboten: Theateraufführungen, Lesungen, "Word up! Poetry Slam",  Jazzkonzerte, aber auch Bands wie MONEYBROTHER, GOSSIP oder GOGOL BORDELLO haben hier schon gespielt. Die Veranstalter hatten an diesem Abend mitgedacht und kostenlos Hustenbonbons angeboten, wäre ja auch zu schade gewesen, wenn jemand in den Vortrag reingehustet hätte. Der Mann vor mir hat es doch tatsächlich fertiggebracht, sein Handy anzulassen. Ein böser Schnitzer, als dieses beim zweiten Song laut zu klingeln anfing. Immerhin, der Klingelton hatte etwas jazzig anmutendes... Jazzfans sind halt auch nur Menschen.

Bekannte Künstler wie DUKE ELLINGTON, DJANGO REINHARDT oder MILES DAVIS fanden natürlich ebenfalls Beachtung in der Lieblingstrackliste von Roger. Letzterer durch die Vorführung eines Duetts aus dem Soundtrack zum Film „Der Fahrstuhl zum Schafott". Er lieferte damals die perfekte Musik für einen Film, in dem ein Mörder im Fahrstuhl stecken bleibt. Beschlossen wurde die Veranstaltung dann allerdings mit zwei Liebesliedern. Eines von MELODY GARDOT, deren Schicksal schon fast konstruiert klingt, aber trotzdem Realität ist. Den Abschluss machte JAMIE CULLUM, die Begeisterung für diesen Künstler kann ich allerdings nicht teilen. Nicht, weil ich ihm die Liebe zur Musik und zum Jazz absprechen will, das würde ich mir nie anmaßen, sondern weil mir seine Stimme nicht gefällt. Die letzten beiden Stücke waren auch die einzigen mit Gesang, Jazz ohne Gesang lässt mir mehr Interpretationsspielraum und gefällt mir somit besser.

Einige Stücke haben mich an diesem Abend überrascht und beeindruckt, aber am meisten das Lied von ABDULLAH IBRAHIM, ein noch lebender südafrikanischer Komponist und Pianist. Die perfekte Melange aus afrikanischen Rhythmen und Jazz, dominiert von diesem eigentlich einfachen wie genialen Klavierspiel, sind einzigartig. Meine persönliche Neuentdeckung an diesem Abend. Gespielt wurde „Chisa" aus dem Album „Cape Town Flower", das die Anwesenden sofort für sich einnahm und zum Mitwippen brachte.



Die Alte Feuerwache war komplett voll, manche standen sogar an der Seite an Stehtischen oder setzten sich gleich auf den Boden. Einige Gäste notierten sich die Namen der Künstler und ab dem dritten Song gab es auch nach jedem Stück Applaus. Applaus, den die Künstler nie hören werden und der wohl zu großen Teilen auch Roger Willemsen galt, der den Jazz an diesem Abend nahegebracht hatte, wie es kein anderer tun kann. Sobald die Musik losging, wurde das Licht über Roger Willemsen gedämpft doch man konnte sehr wohl sehen, dass er gedankenverloren vor sich hinlächelte und den Moment genoss. Seine Leidenschaft für diese Musik war deutlich spürbar und der Funke flog auf das Publikum über. Roger Willemsen hat die Gabe, mit seiner Begeisterung andere anstecken zu können. Der Abend hat mal wieder gezeigt: Jazz ist magisch!

Vielen Dank an Roger Willemsen, Julia Wittgens und Ulrike Hacker!

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