Um möglichst viele Facetten beleuchten zu können, besteht die Runde aus vier Personen, die das Wacken aus unterschiedlichen Blickwinkeln und zu unterschiedlichen Zeiten kennenlernen durften:
Steve Nachtgarm Marbs ist Frontmann der deutschen Extreme-Metal Band NEGATOR. Von 2011 bis 2013 sang er zusätzlich – als Nachfolger von Emperor Magus Caligula – bei DARK FUNERAL und trat 2012 in dieser Funktion auch auf dem Wacken auf.
André Kummer ist Schlagzeuger der Hamburger Old-School-Death-Metal-Band ENDSEEKER. Seit 1998 besucht er regelmäßig das Holy Wacken Land und hätte nach insgesamt 17 Besuchen langsam mal eine goldene Kundenkarte verdient.
Wolf Speer ist in erster Linie Videospiel-Redakteur und Produzent von Web-Videos. Zum Wacken kam er eher durch seine private Musikvorliebe als durch seinen Beruf. Auf seiner Seite sexycripples.de, die er gemeinsam mit Ehefrau Kim betreibt, findet sich jährlich sein sehr kurzweiliger, viel bebilderter Wacken-Bericht. Mit seinem ersten Wacken-Besuch 2011 ist er der „Frischling“ der Gruppe.
Mich verschlug es 2007 zum ersten Mal aufs W:O:A. Ein Sold-Out gab es damals schon bei 40.000 Besuchern. Heute umfasst das Festival rund 85.000 Personen, 75.000 davon sind zahlende Besucher.
Unter diesen 85.000 Menschen befinden sich natürlich nicht nur knallharte Metalheads mit selbstbestickten Kutten, die seit Mitte der 90er aufrecht stehen bleiben, wenn man sie auszieht. Ganz im Gegenteil: Viele fahren zum Wacken, um sich gemeinsam mit Freunden zu betrinken, den Zeltplatz mit viel zu lauter Musik zu beschallen und ein paar Tage das Gehirn auf Sparmodus zu stellen. Da kann man sich nun zwei Fragen stellen: Ist das wirklich ein Problem? Und zweitens: Ist das wirklich ein Wacken-Problem?
Als festivalerprobte Gruppe können wir behaupten, dass diese sogenannten Festivaltouristen eigentlich überall vorkommen. Egal ob Hurricane, Rock am Ring oder Fusion: Unabhängig von Musikstil und Ort neigen Festivals dazu, ab einer gewissen Größe und Vielseitigkeit auch Leute anzuziehen, die nicht in erster Linie wegen der Musik dort sind, sondern einfach am Event teilhaben möchten.
Sicher, die Veranstalter des Wacken haben sich bewusst entschieden, das Konzept zu erweitern und zusätzlich zu den klassischen Bühnen im Infield weitere Programmpunkte anzubieten. So gibt es beispielsweise seit knapp zehn Jahren mit dem Wackinger-Village einen eigenen Mittelaltermarkt inklusive Bühne auf dem Acker. Nun sind wir alle keine allzu großen Fans von dudeligem Mittelalter-Rock, aber bisher hat uns noch niemand geknebelt und an die Bühne gefesselt, bis Schalmeien und Dudelsäcke die Trommelfelle blutig getrötet haben.
Das Village lockt viele Besucher an, die diese Musik gerne hören, und verleiht dem Festival eine weitere Facette. Und auch wenn wir nicht mit Glöckchen um die Fußknöchel in der ersten Reihe zum Rhythmus stampfen, so freuen wir uns doch über die Erweiterung des kulinarischen Angebots durch Zyklopenspieß, Handbrotzeit und Pfaffenglück.
In Internetforen und unter jedem Bericht, der zum W:O:A erscheint, sind die Unkenrufe laut: zu groß, zu bunt, zu wenig Metal und zu teuer.
Zugegeben, 170 Euro für ein Ticket ist eine stolze Summe. Insbesondere wenn man bedenkt, dass vor Ort jedes Bier 3,50 Euro kostet. Nicht selten kommt es vor, dass man am Ende des Wochenendes in das gähnend leere Portemonnaie blickt und mit einer Träne im Augenwinkel realisiert, dass man gerade einen einwöchigen Urlaub verfeiert hat. Und auch wir fragen uns, warum man 2007 mit 40.000 zahlenden Besuchern und einem Ticketpreis von 130 Euro ein ähnlich gutes, wenn nicht sogar noch besseres Line-Up hinbekommen hat. Hätte man es nicht einfach auf dem Level lassen können?
Hätte man sicherlich. Nur muss man sich da bei aller Liebe zum Metal und zur Festivalkultur wahrscheinlich auch eingestehen, dass das Wacken ein großes, erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen mit zahlreichen Angestellten und Projekten ist. Und was tun erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen? Sie expandieren, um ihren Gewinn zu maximieren.
Früher war also alles besser? Naja, es war auf jeden Fall anders. Natürlich ist es entspannter, mit 30.000 Leuten vor einer Bühne zu stehen, als mit 80.000. Die Wartezeiten an den Eingängen sind kürzer und die Bier- und Kloschlangen ebenso. Obwohl das mit den Eingängen so nicht ganz richtig ist, wie sich Kummer erinnert. Denn beim IRON MAIDEN-Gig 2010 war der Ansturm der Besucher so groß, dass es bei Weitem nicht alle Fans ins Infied schafften.
Was man nicht vergessen darf: Bei einem Projekt in dieser Größenordnung ist es unmöglich, den Leuten nicht auf die Füße zu treten. Der Adventskalender, bei dem jeden Tag eine Band bestätigt wird, beweist das sehr eindrucksvoll. An einem Tag beschweren sich die Fans über ESKIMO CALLBOY, weil die so neu, unpassend und überhaupt nicht true sind, und am nächsten Tag ärgern sich andere über SAXON, weil die schon häufiger da waren als Kollege Kummer, immer die gleichen Songs spielen und nicht mehr zeitgemäß sind.
Ja, es ist nicht alles Metal, was beim Wacken auftritt. Zwischen BEHEMOTH, EMPEROR und MACHINE HEAD finden sich auch Namen wie BOSS HOSS, SANTIANO und BÜLENT CEYLAN. Aber machen diese Acts den wahren Metalheads das Festival kaputt? Wir finden das schwer vorstellbar. Bei sieben Bühnen, die mehr oder weniger gleichzeitig bespielt werden, sollte man eigentlich immer etwas finden.
Ist es nicht sogar so, dass diese – manchmal skurrile – Mischung das Wacken erst zu dem macht, was es ist bzw. geworden ist und woran es nun auch seit einigen Jahren festhält? Oder wie Wolf es treffend ausdrückt: „Ich kann mir STEEL PANTHER angucken und dabei einen IQ von 3 haben und danach gehe ich ins Zelt und lasse mich von THE OCEAN in Suizidstimmung versetzen.“
Das Wacken ist seit sehr langer Zeit kein Insider-Festival mehr, das sich nur auf musikalische Unterhaltung besinnt. Darüber kann man sich jetzt jedes Jahr aufs Neue beschweren oder es eben akzeptieren. Dass wir uns nicht missverstehen, wir sagen nicht geschlossen, dass das Wacken alles richtig macht oder das beste Festival der Welt ist. Klar nervt es, dass die Wege deutlich länger geworden und die Preise gestiegen sind. Und ja, es ist nicht nur noch Metal. Sicherlich mag nicht jeder MAMBO KURT und TORFROCK oder Schlammcatchen und Pfahlsitzen. Und ja, wir finden das auch albern.
Aber wer keine Lust auf den „Metal-Zirkus“ hat, den das W:O:A bietet, der findet zum Glück viele andere Möglichkeiten, kleinere und günstigere Festivals zu besuchen, die sich auf ihre zwei bis vier Bühnen konzentrieren: PARTYSAN, SUMMERBREEZE und EUROBLAST bieten zum Beispiel hervorragende Alternativen. Steve hat es genau so gemacht. Sein letztes privates Wacken liegt nun 12 Jahre zurück. Damals hat er für sich entschieden, dass ihm das Festival zu groß und das Drumherum zu viel wurde.
Das Wacken macht Dinge gewollt anders. Kein anderes Festival der härteren Gangart bietet eine so große musikalische Vielfalt und so viele Möglichkeiten des Zeitvertreibs. Damit hat es sich ein Alleinstellungsmerkmal am Markt erkämpft.
Wir verstehen jeden, der genau darauf keine Lust hat und dem Preise und Umfang des W:O:A einfach zu viel geworden sind. Aber warum immer diese Mimimi-Kultur? Ihr wisst doch, was ihr bekommt, oder eben auch nicht bekommt. Wenn ich zum Asiaten essen gehe, dann kann ich mich zwar beschweren, dass keine Pizza auf der Speisekarte steht, aber dann ist es vielleicht ja auch ein ganz kleines bisschen meine Schuld, dass ich nicht beim Italiener nebenan bin.
Kurz gesagt: Ihr dürft das Wacken hassen. Ihr dürft alles albern, untrue und kindisch finden – aber lasst die Leute, die gerne in den Zirkus gehen, doch einfach die Show genießen.
Wir freuen uns jedenfalls darauf, auch in diesem Jahr vom 4. bis 6. August das Hirn zu Hause lassen zu können und gemeinsam mit IRON MAIDEN, STEEL PANTHER, ARCH ENEMY, BLIND GUARDIAN, TESTAMENT und vielen weiteren Acts eine ausgelassene Party zu feiern. Mit ein bisschen Glück spielt, nach der Schlammschlacht von 2015, dieses Mal auch der Wettergott mit.
Magic Wacken-Moments
Kummer
• HYPOCRISY 1998
• MACHINE HEAD 2009
• GOJIRA 2010
• IN FLAMES 2012
• RAMMSTEIN 2013
• SLAYER 2014
Wolf
• Der erste Gang aufs Gelände, wenn noch alles friedlich ist und man das Gefühl hat, wieder nach Hause zu kommen.
Steve
• Der erste Wackenbesuch 1995 (MORGOTH und TIAMAT!)
• Zelten ab Montags auf Campingplatz B 1999 – 2001
• Die „Geburt“ von NEGATOR 2002
• DARKTHRONE, Wacken 2004 (SATYRICON + NOCTURNO CULTO), gleichzeitig mein letztes privates WOA
• Das Treffen mit Doug „Pinhead“ Bradley 2011
• Der erste eigene Wackenauftritt mit NEGATOR 2011
• Der zweite eigene Wackenauftritt mit DARK FUNERAL 2012
Vero
• Das erste Mal Crowdsurfen 2009
• Hamburg – Wacken, in nur zwölf Stunden. Der Stau des Jahrhunderts, mit der besten Laune und einer spontanen Grillparty auf der Autobahn 2007
• IN FLAMES 2012
• RAMMSTEIN 2013
• Mit Freunden auf dem Zeltplatz durchfeiern, bis es wieder hell wird 2013
• Der Platzregen bei LAMB OF GOD 2013
Bands 2016: http://www.wacken.com/de/bands/bands-billing/
Running Order 2016: http://www.wacken.com/de/bands/running-order/
Quo vadis Wacken? Eine Bestandsaufnahme des Kult-Festivals vor dem W:O:A 2016
Seit 1990 findet das Wacken Open Air alljährlich in der namensgebenden Gemeinde in Schleswig-Holstein statt. In seinen 26 Jahren hat sich das einstige kleine Wiesenkonzert zum größten Metalfestival der Welt gemausert und lockt Fans aus aller Herren Länder an.
Doch gerade in den letzten Jahren melden sich immer mehr Stimmen lautstark zu Wort, die behaupten, dass das Wacken langsam aber sicher zum "Ballermann der Szene" mutiert. Irgendwo zwischen Schlammcatchen, Pfahlsitzen und Wasteland-Stage finden sich demnach nur noch vereinzelnd Menschen, die wirklich wegen der Musik dort sind.
Dieser diskutablen These gilt es auf den Zahn zu fühlen, weshalb ich erneut zum Gespräch gebeten und mir ein paar illustre Gäste in das heimische Wohnzimmer eingeladen habe.
Vero
Gastautorin mit Wacken-Expertise