Menschenlawine durch Schlamm
So in etwa habe ich mich gefühlt, als ich ein Teil des Stromes an Metalheads war, der sich durch den knöchel- bis schienbeintiefen Schlamm in Richtung Holy Ground schob. Vorbei an Zelten, in denen ich Angst gehabt hätte, dass sie sich in der Nacht wie kleine Boote vom Steg losreißen und in den Schlammstrudeln versinken würden.
Na ja, das war vielleicht ein wenig zu literarisch. Doch die Autos, die einzeln von Traktoren auf die Camping-Grounds gezogen wurden, waren ganz reell teilweise bis zur Scheibe mit einer Mischung aus Regen, Kuhfladen und Ackerboden in Koppel-Grau lackiert worden.
Vollständiger Anreisestopp
Das war wohlgemerkt vor dem Camping Anreisestopp, der zum vollständigen Anreisestopp umgewandelt wurde. Trotzdem haben es wohl 50.000 Metalheads geschafft, ihr Bändchen und damit den Zutritt zu den Camping-Grounds und dem Infield zu erhalten. Die Sozialen Medien, aber auch Print und Bewegtbild ereifern sich gerade, auf moderne Schwarz-Weiß-Sichtweisen reduziert, über die Frage: „Wer hat Schuld?“
Schaut selbst nach und findet viele unterschiedliche Argumentationsketten, die unter anderem das Wetter, die Investoren, die Kommunikation, die Sicherheitslage, die rechtliche Lage, wer ein echter Metalhead oder ein Weichei ist, in den Mittelpunkt stellen. Ich habe das Gespräch mit unterschiedlichen Menschen gesucht, die einfach auf dem Festival feiern wollen. Und da gibt es viele Einzelschicksale (ja, das Wort Schicksal ist hier etwas zu dramatisch):
Ein Metalhead, der sich ein Wohnmobil für 1000 Euro gemietet, eine Woche Urlaub genommen und nun nicht sein Bändchen bekommen hat, gehört genauso dazu, wie die fünf Rocker, die bei einer konservativen Familie im Dorf Wacken eine Unterkunft bekommen haben, sich dort angemessen verhalten und nun mehr mit den Gastgebern feiern als im Infield.
Image-Klatsche
Doch auch, wenn „rain or shine“ als Schlagwort für „Entspannt euch, das kriegen wir hin“ steht und sehr viele Menschen (inklusive vieler Leute in den umliegenden Dörfern) das Beste aus der Situation machen und fast ehrfürchtig über 2005, 2011, 2012 und 2019 sprechen, die jeweils auch massive „Rain"-Jahre waren: Im Nachgang blieb stets das Gefühl der Gemeinschaft, etwas Außergewöhnliches in doch sicherer Umgebung gemeinsam gemeistert zu haben und dabei sich als positiv hysterische Masse gegenseitig geholfen zu haben. Das ist der Ruf des Wacken-Publikums und an diesem arbeiten alle Metalheads selbst gerne.
Aber ein tortenstückweise abgesagtes Festival lässt einen schalen Beigeschmack, wie Bier mit Matsch. Es werden von 35.000 abgeblitzten Fans einige ihre Anwälte bemühen. Ein Rechtsstreit, der zäh und über Jahre laufen wird. Und es werden eine ganze Menge Leute sagen, "Was soll der Scheiß. Ich fahre da nicht mehr hin. Die haben großen Mist gebaut.“
Die eingesessenen Wacken-Gänger haben dafür eine Antwort: „Schön, wenn wir ein paar von den immer mehr werdenden Jammerlappen los werden, dann ist wieder mehr Platz für die echten Metalheads.“ (Dies ist übrigens der psychologische Bias des Backfire-Effekts – aber das würde zu weit führen.)
Bock auf Mukke
Doch ob es nach den Corona-Jahren ein Neck-Breaker für das Festival wird, bleibt abzuwarten – denn auch ein so großes Festival kann nicht einfach mal so 10 Millionen Euro (nur für die Ticketrückerstattung) und eventuell viel mehr berappen. Ich hoffe es nicht. Denn wenn ich mir 50.000 rockende, lachende, trinkende, moshende, Gemeinschaft erlebende Metalheads ansehe, dann ist Wacken tatsächlich ein einmaliges Festival, das auch einmal schwierige Stunden übersteht, um in die Zukunft zum „Shine“ zu sehen.
Rock on – louder, harder, faster.