Die Sonne schien, auch aus unseren Ärschen. 1988 das Werner-Rennen, mit 200.000 Leuten. 1989 Weltjonglierfestival in Kreuzberg. Hinter der Leinwand des Kinos der Regenbogenfabrik geschlafen, über die Mauer geguckt und die Märsche des Pfingsttreffens der FDJ gesehen. In der Nacht des 9. Novembers 1989 nach Berlin getrampt, auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor neben einem VoPo posiert und im Europacenter mit hunderten Ossi übernachtet, die Orangen mit Schale aßen.
Wir dachten, dass Frieden überall möglich sei. Kleine Festivals gab es überall. Das Scheunenfest der Dorfjugend in Mohrkirch, die Koppelparty in Hüsby, das legendäre Jübek Open-Air und das nicht mindergeniale Wallsbüll-Open-Air. Der Baumgarten, als Live-Schuppen auf dem Land, das Soul-Kitchen neben dem zu der Zeit bereits geschlossenen Onkel Pö und die Fabrik, als Institution, in Hamburg. Lokale Musik und Legenden waren gemischt auf unserem Wochenendprogramm. Wir hatten natürlich auch eigene Bands. Erst DIE BLUTIGEN TEEBEUTEL mit deutschem Wave-Punk und dann UAS, was „Unter aller Sau“ hieß, aber das sollte ja niemand wissen, denn wir haben harten deutschen Rock abgeliefert, der bis heute bestehen würde.
1990 – Das erste Wacken Festival
Wie gesagt, uns schien die Sonne, aber das wisst ihr schon. Da kam ein neues Festival gerade Recht. Eigentlich unsere Home-Zone. Westküste, schon Richtung Hamburg. In der Nähe des einzigen Ortes, der ein ganzer englischer Satz ist: It’s a whore (Itzehoe). Und das ist der Ort tatsächlich. Dass es dann noch in irgendeinem Kuh-Dorf in der Nähe war, schreckte uns nicht ab. Es war unser aufregendes Dorfleben, das sich so echt anfühlte. Waldheim Festival in Nordfriesland, Ringe auf Midfyn und Roskilde, Session in Rantum auf Sylt, dann also ein Kaff im Kreis Steinburg; Wacken.
Zu Dritt im weißen Nissan Bluebird, den ich schon einmal vorher in den Graben gesetzt hatte und den Kotflügel eigenhändig wieder einigermaßen glattdengeln musste. Es war die Familienkutsche meiner Künstlerfamilie. Zwei Kumpels, zwei Zelte, Dosenravioli und Dosenbier waren geladen. KQ 35 VDP gab es: Karlsquell, 35 Pfennig die Dose, von der Palette. Bestes Aldi-Bier. Was eben das Taschengeld hergab. 12 Mark kostete der Eintritt. Für drei Tage „auf der Piste“ war das ein vernünftiger Kurs. Freitag ankommen, Samstag Vollgas, Sonntag abklingen.
Wir waren früh dran. Nach der Schule, die erste Schulwoche nach den Sommerferien war gerade rum, alle Sachen eingepackt und los ging es. Schön AC/DC und MOTÖRHEAD im Kassettenspieler, aber auch MOTHER'S FINEST, CAROLYN MAS und JAMES BROWN. Zu verfehlen war das Festival nicht. Irgendwie mitten im Dorf und doch auf einer großen freien Fläche, die von kleinen Wällen umgeben war. Das war also der Holy Ground. Na ja, so nannte es niemand, auch die nächsten Jahre nicht.
Eindrücke vom "Holy Ground"
Der Raiffeisen-Getreide-Turm war schon im Blick und auch den Wacken-Schädel (später internationaler "Bullhead") gab es schon. Einige der Crew-Leute trugen ein schwarzes T-Shirt mit den Festivaldaten und einem weißen Schädel drauf – und sicher heute im Bereich der Wacken-Devotionalien gefragt. Und an der höchsten Stelle der Bühne hing eine Fahne mit dem Schädel – rot auf schwarz. Es wird oft geschrieben, dass die Bands von einem LKW-Anhänger gespielt haben. Das stimmt nicht. Der Anhänger war der Mischer-Turm. Die Bühne war ein ziemlich großes Halbzelt, bestimmt 8 Meter hoch und 15 Meter breit. Eine fette Lichtanlage war installiert, der Sound breiig, aber laut.
Wir waren beeindruckt, kannten wir doch Festivals vom PKW-Anhänger mit ein paar hundert Besuchern und selbst gelöteter PA. Wacken wirkte professionell, aber auch gleichzeitig überengagiert. Wir hatten gehört, dass die beiden Veranstalter selbst auf der Bühne stehen sollten.
Thomas Jensen machte als Bassist der Top-40-Band SKYLINE den Anfang und sein Kumpel Holger Hübner legte danach die Platten auf. Wir hatten ein bisschen die Idee, dass sie sich selbst ein Festival-Denkmal setzen wollten. Es war eine „Think-Big“-Stimmung, oder ein „wenn schon, dann richtig“. Die beiden sollten Recht behalten, trotz aller schwierigen ersten Jahre, nachdem die ganzen kleinen Festivals in den 1990er Jahren bereits wieder aufgegeben hatten, da die handgemachte Musik eine Zeit lang nicht mehr so im Vordergrund stand und Diskos gerade das Ding waren. Holger und Thomas flashten immer umher. Mal waren sie beim Mischen, mal hinter der Bühne, dann wieder beim Bierausschank.
Festivalstimmung: Zwischen Zelt, Musik & Dosenbier
Wir drei Freunde waren hier willkommen. Scheinbar war ein befreundeter Rocker-Club auch gleichzeitig Eingangskontrolle, Security und die besten eigenen Gäste. Wir haben unsere Zelte ein bisschen abseits aufgebaut, wenn man das bei der großen freien Fläche so sagen konnte. Die beiden Kumpels hatten ein Familienzelt, das aus den 1970er Jahren kam. In Braun- und Orangetönen, mit scheinbar 250 Stangen und weißen Fransen am Außenzelt. Ich hatte die „Beule“. Ein sogenanntes Zwei-Mann-Zelt, das aber so klein war, dass man nur knapp ausgestreckt quer drin schlafen konnte. Es war eines der ersten erschwinglichen Zelte mit Glasfasergestänge gewesen, aber so richtig funktionierte es nicht, sodass das lila Tuch immer wie eine eierige Beule aussah, aber schon diverse Festivals durchgehalten hatte. Natürlich half ich meinen Freunden nicht beim Aufbau, obwohl ich viel früher fertig war. Dafür sorgte ich für Musik, Bier und erwärmte bereits die ersten Dosen Ravioli für alle auf dem Billig-Dreibein-Grill mit Holzkohle.
Und dann folgte ein klassischer Wacken-Tag eben. Schön Dosenbier trinken, kloogschietern (vor allem über Musik) und andere Leute angucken, ohne zu glotzen. Ein paar Zelte wurden noch aufgebaut und langsam füllte sich der Platz vor der Bühne und am Bierwagen. Es wird immer von 800 Zuschauern gesprochen. Vom Gefühl her habe ich sie nie gesehen. Vielleicht waren sie verteilt: 400 am ersten Abend, 400 am zweiten Abend. Nein, ich weiß nicht. Aufgrund des großen, ebenen Geländes und der riesigen Bühne fühlte sich die Menge an Menschen nie viel an. Das tat dem Spaß aber keinen Abbruch. Bei SKYLINE, noch im Hellen, und später der Rockin‘ Disc Show von Hübner.
Als Quasi-Mitmusiker (mit steigendem Alkoholpegel fühlte man sich so), kam ich bald ins Gespräch mit Bandmitgliedern der Bands des nächsten Tages und wir hatten uns schon zu einem Back-Stage-Treffen verabredet, in der Hoffnung, dass alle sich noch am nächsten Tag dran erinnerten.
Irgendwann: ab in die Beule! Verstaubt, stinkend, die halben Klamotten noch an. Am nächsten Morgen um 7 Uhr wurde es schon so heiß im Zelt, dass ich sterben wollte. Wasser – gab es damals nur in Glasflaschen – hatte man natürlich nur in homöopathischen Dosen mitgenommen, denn Bier ist ja wichtiger. Aber jetzt brauchte ich Wasser und eine Cola (der Energie-Drink der frühen 1990er Jahre).
Also, auf ging es ins Dorf zum Edeka-Markt, der in meiner Erinnerung ein Spar-Markt war, aber wer weiß das schon. Damit war ich wohl der erste Metalhead, der als sonnenüberhitzter, verstaubter Zombie durchs Dorf schlurfte. Wasser und Cola. Sogar so viel, dass genug für meine Kumpel dabei war (es wurde mir später am Tag überschwänglich gedankt, als sie einige Stunden später aus ihrem Luxus-Zelt aufstanden).
Auch eine Festival-Tradition war in jungen Jahren das „Doppelbreit sein“ an einem Tag. Aus langer Weile begann ich nach der Cola wieder mit Bier und als die Dose Mexiko-Topf (ja, Abwechslung war angesagt) auf den Grill kam, war ich schon so voll, dass ich schlafen ging, um ausgeruht am Nachmittag wieder in den Bierfluss der anderen einzusteigen. Gesund geht anders.
Kippen statt Fotos und "0 bis 10"
Apropos – Rauchen war damals noch normal. Alle hatten Kippen im Mund, überall lagen die Stumpen herum. Die Hände waren nie frei, in der einen Hand ein Dosenbier (natürlich pfandfrei), in der anderen eine Ziese. Also, ich nicht, ich habe nie mit dem Rauchen begonnen, aber ich war immer dort, wo geraucht wurde, da war einfach mehr los. Dafür gab es noch lange keine Handys, geschweige denn Multimedia-Geräte.
Erinnerungsfotos gab es nicht. Wer beim Festival war, war raus. In einer Parallelwelt, nicht erreichbar, dafür voll auf Bier und Musik fokussiert – „Mindfulness“ heißt das doch heute. Und alles wurde auf der direkten Emotions-Festplatte in der Rübe gespeichert. Jedoch waren im Gedächtnis nicht kontinuierlich die beiden Aufnahme-Knöpfe gedrückt. Zumindest nicht im Brause-Brand. Und dass ich knapp 35 Jahre später alles genau aufschreiben wollte, wusste mein Gehirn zu dem Zeitpunkt auch nicht. Also, auf geht es mit Blitzlicht-Geflacker.
Erst stand die Sonne hoch und der Soundcheck begann bereits wieder, damit die fünf Bands des Tages am späten Nachmittag loslegen konnten, dann war es schon dunkel und die Kombos waren voll zugange. Moment. Was war bisher passiert? Dosenbier, Bierpilz, beim Pullern am Zaun umgefallen, dann das 0 bis 10 Spiel gespielt. Oh nee. Wie es geht?
Ich frage meinen Kumpel: „Fresse, Ranzen, Oberarm?“, worauf der sich für ein Körperteil entscheidet. Danach muss er angeben, wie doll ich zuzimmern soll: 0 bis 10. 0 ist stupsen, 10 ist mit ernsthaft voller Kraft. Wenn es also „Ranzen 6“ heißt, muss ich mich auf die exakte Schlagstärke vorbereiten, in einer geschmeidigen Choreografie den Schlag – hier in den Bauch – ausführen und punktgenau treffen. Danach musste derjenige, der den Schlag erhalten hatte, diesen bewerten. Wenn er nach den Vorgaben verlaufen war, konnte ich mir einen Schlag aussuchen. War er nicht regelkonform, erhielt ich den geforderten Schlag zurück, ohne es mir aussuchen zu dürfen. Ich weiß, ein tiefgründiges Spiel für den Pärchenabend.
Aufgrund unseres fortgeschrittenen Bierkonsums waren wir scheinbar bereits bei der 10 angekommen und es war wohl ein „Oberarm-Abend“. Mit geschmeidigem Anlauf von einigen Schritten tänzelten wir auf den anderen zu, holten aus – was in etwa so aussah wie ein Pitcher beim Baseball – und zirkelten den Schlag satt auf den Arm, ohne die Schulter zu treffen. Statt vom Festivalgelände zu fliegen, fanden es die Rocker scheinbar so lustig, dass wir in den Back-Stage-Bereich gelassen wurden. Da waren wir nun, wie war doch egal. Wieder etwas vorgespult.
Mein großer Wacken-Moment ...
Wir halfen gerade SACRED SEASON, die aus dem Kieler Umland kamen, beim Aufbau der Amps und der Schießbude, als der Bandleader, der so hieß wie ich, auf mich zukam und fragte, ob ich die Gitarre übernehmen könne, da seine Hand weh tue und ich ja Gitarrist sei. Vielleicht hatte er 0 bis 10 mitgespielt, das bleibt aber im Nebel der Vergangenheit verschollen.
Da war er also, der glorreiche Beginn einer langen, erfolgreichen Musikerkarriere – direkt beginnend mit dem Heiligen Gral der Metal-Szene, dem ersten Wacken-Open-Air … könnte der eine oder die andere jetzt vermuten …
Na ja, ich hatte natürlich mit meinen, zu der Zeit, fünf sicheren Akkorden ordentlich getrommelt, wie gut ich an der Gitarre sei. Außerdem spielt es sich voll wie ein Amtmann noch etwas „individueller“. Der Bassmann rief mir zu: „F – G – Ais“. Ansage von Thomas Jensen, Licht an, Drummer zählt vor und ich verkacke satt! Nach nur sechs Takten war klar, dass der Bandleader selbst mit zwei gebrochenen Armen besser die Gitarre spielen und dabei singen konnte als ich mit drei Händen mit je sechs Fingern. Nach etwa einer Minute verweigerte der Drummer seinen Job. Der Rest der Band stoppte ebenfalls. Das Grölen des Publikums zeigte zumindest an, dass alle Zuschauer in etwa meinen Pegel hatten. Stillschweigend übergab ich die Gitarre und schlich mich von der Bühne. Die Band verpackte es als eine Art Soundcheck und begann erneut, nun melodisch und auf den Punkt.
Und was passierte mit mir? Wurde ich nun endlich mit Schimpf und Schande des Festivals verwiesen? Nein. Versank ich vor Scham im Boden und stoppte nicht, bis ich am glühenden Erdkern verdampfte? Nein. Eigentlich ging es einfach weiter. Wir drei beeumelten uns köstlich, flachsten, tranken weiter und genossen belegte Brötchen Back-Stage, um einen großartigen Festival-Abend zu haben.
Am nächsten Morgen um 7 Uhr war die Beule schon wieder so heiß, dass ich aufstehen musste. Damit ich nicht zu Spar (ich bin mir fast sicher) ins Dorf gehen musste, organsierte ich drei Flaschen Wasser backstage, das mittlerweile fast verwaist war. Ziemlich angeschlagen und mit schmerzenden Armen und Fingerknöcheln – vom 0 bis 10 Spiel – ging es später am Tag wieder Richtung Schleswig, unserer Home-Base (da wir alle noch bei den Eltern wohnten). Nun eher etwas ruhiger, aber immer wieder in lustigen Erinnerungen der letzten Tage schwelgend.
Erst Jahre später ließ ich den Festival-Besuch zu etwas Legendärem anschwellen, mit dem beiläufig-nebulösen Satz: „Ich bin beim ersten Wacken-Open-Air aufgetreten.“ Faktisch nicht falsch, aber vermutlich förderte ich mit dem Satz falsche Erwartungen. Gerade, wenn ich mit langhaarigen, lederbekutteten Südamerikanern schnacke, bin ich schon eine Art Heiliger, wenn ich nur erwähne, dass ich weniger als 50 Kilometer von Wacken entfernt wohne. Wenn ich dann sage, dass ich beim ersten W:O:A war, wird der Blick voll Ehraufbietung abgewendet. Sollte ich dann meinen Satz, „Ich habe da auf Wacken Gitarre gespielt“ abspulen, gibt es kein Halten mehr. Mein Status ist gleichbedeutend mit einem Nagel vom Kreuz Christi.
Gebt also keinem Südamerikaner diesen Artikel, damit ihr mir zumindest nicht meine unregelmäßigen drei Minuten Heiligkeit entreißt. Somit rufe ich euch Wissenden nun zu: Haltung einnehmen, Dosenbier aufreißen und ex auf mich. Denn ich bin Holy Ground – sonst gibt es eine 8 in den Ranzen!