Geschrieben von Mittwoch, 10 Juli 2024 10:23

Zwischen Nostalgie und Not: Ein Seufzer für As I Lay Dying ...

AS I LAY DYING live 2022 – Alte Geschichte, neue Besetzung AS I LAY DYING live 2022 – Alte Geschichte, neue Besetzung Bild: Sven Mandel

Sven Mandel, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Musikhören wäre so leicht. Metal an, Lautstärke rauf, Herz wird warm. Es wäre so leicht, gäbe es nicht den einen oder anderen Musiker, der sich gelegentlich so dermaßen daneben benimmt, dass er zu Recht in Ungnade fällt.

Die Frage nach der Trennung von Künstler und Werk geht mit jedem dieser Fälle aufs Neue durch die Medien. Und während manche Bands verwunderlicherweise gestärkt mit sogar steigender Unterstützung ihrer Fans aus der Krise herausgehen, ruiniert Cancel Culture andere völlig.
Doch eine Band zu canceln ist leichter gesagt als getan, vor allem wenn man die Musik aus tiefstem Herzen liebt. Das Gewissen hört mit, und es schmerzt. Das gilt auch für viele Fans einer gewissen Band aus Kalifornien, die vor über 20 Jahren unter dem Namen AS I LAY DYING anfing, den Metalcore und ihre Fans wie kaum eine andere Band zu prägen.

Die Geschichte tut weh, doch sie muss erzählt werden, denn nicht nur mich haben die Jungs über Jahre durch zig Lebensphasen begleitet. Nicht nur ich habe die Musik mit jedem Album mehr geliebt.
AS I LAY DYING war riesig, und zwar verdammt lang und dabei auch verdammt einflussreich auf mindestens zwei Musiker-Generationen.

Als die schockierenden Meldungen zu Sänger Tim Lambesis durch die Medien gingen, nachdem dieser einen Auftragsmörder auf seine Frau angesetzt hatte, machte es nicht nur mir auf einmal keinen Spaß mehr, die Alben aufzulegen. Doch die Versuchung war da, und irgendwann wurde man doch schwach. Es ist einfach verdammt gute Musik.

Jedenfalls fiel die Band auseinander, Lambesis wanderte für Jahre hinter Gitter. Die verbliebenen Mitglieder gründeten WOVENWAR, doch der Funke wollte einfach nicht zünden. Jahre später hatte Tim seine Strafe abgesessen, die Band kehrte zurück und war mit dem Album "Shaped By Fire" stärker und besser als je zuvor. Als wäre nichts gewesen, stürmten wir alle auf das Konzert im Münchner Zenith, das sogar die Band höchstpersönlich bis heute als eines ihrer besten überhaupt bezeichnet. Mitschnitte dieses Abends landeten auf der Deluxe-Ausgabe des Albums oder wurden als Video veröffentlicht. Wir waren dabei, und nun sind wir ein Teil der Geschichte von AS I LAY DYING.

Mir gehört eine der tausenden Stimmen, die an diesem Abend jedes Wörtchen mitgröhlten und heute auf den Aufnahmen zu hören sind. Wir hassten die Geschichte dieser Band, doch unfreiwillig erfüllte es uns auch mit einem seltsamen Stolz, nun Teil dieser Geschichte zu sein. So viel zum Thema Canceln. Doch es ist ein fader Stolz, denn das Videomaterial spricht Bände über den Zustand der Band zu diesem Zeitpunkt. Es brodelte im Gefüge, nur wir Fans bekamen nichts davon mit.

Irgendwann wurde es sus

Denn wer hier genau hinsieht, sieht paradoxerweise vor allem einen nicht: Gitarrist Nick Hipa. Der war kurz nach der Tournee ausgestiegen, und man hat ihn kurzerhand aus den Videos rausgeschnitten, als hätte er die Shows nie gespielt. Nachdem wir zu Tausenden das Comeback gefeiert hatten, fing die Band wohl selbst an, zu canceln – und zwar ein unschuldiges Bandmitglied, das allem Anschein nach einfach seinem Kollegen die Reue über dessen Tat nicht ganz abkaufte. Sus. Oder andersherum: Er fing an, seine eigene Band zu canceln.

Egal wie es war, es ist sus. Die heile Welt der Reunion wurde jedenfalls sehr brüchig, und irgendwie war es doch auch auffällig, dass sich Nicks Ausstieg bis heute in seltsames Schweigen hüllt. Sus. Kurz darauf stiegen Drummer Jordan Mancino und Sänger und Basser Josh Gilbert aus. Sus. Die Vergangenheit schien alles andere als aufgearbeitet.

Die Band war offensichtlich endgültig ruiniert, denn verliert sie einen Gitarristen, ist das eine Sache. Aber wenn das Zugpferd der melodiösen Mitgröhl-Parts aussteigt, ist das eine völlig andere. War es bislang wohl möglich gewesen, die Geschichte irgendwie zu ignorieren, hatten Fans wohl spätestens jetzt einfach keinen Bock mehr auf die Angelegenheit, selbst als man die frei gewordenen Posten größtenteils einfach mit kurzerhand bei UNEARTH abgeworbenen Musikern besetzte, was nochmal ein ganz eigenes Beben im Metalcore war.

Spielte die Band 2019 noch spektakulär vor 7.000 Leuten im ausverkauften Münchner Zenith, fand das Konzert im vergangenen Jahr dann im Backstage Werk vor wenigen Hundert statt. Leute, in der Halle habe ich auch schon gespielt. Wenn das kein Downgrade ist! Das ist die späte Wirkung von Cancel Culture – sie griff erst, als selbst die Bandkollegen anfingen, Lambesis' Reue nicht für voll zu nehmen. Dieser Dämpfer wird der Band wohl noch länger anhängen.

Leider geil

Doch Lambesis gibt sich bürgernah und schafft es irgendwie, tatsächlich auf die Mehrzahl der Kommentare auf Social Media persönlich zu antworten. Man lasse die Vergangenheit hinter sich, die Band sei "besser und stärker als je zuvor". Es ist logisch, dass er sich bei all der Kritik selbstsicherer denn je gibt, doch das Beeindruckende ist, dass sein Selbstvertrauen vielleicht berechtigt ist, und hier wird es nun schwierig.

Denn bei aller Skepsis muss man festhalten, dass das neue Material der Band wirklich massiv ist. Mit Ryan Neff fanden die verbliebenen Mitglieder allem Anschein nach einen singenden Bassisten, der tatsächlich in die riesigen Fußstapfen seines Vorgängers treten kann. Wer dachte, dass sich das Thema AS I LAY DYING mit der letzten Tour erledigt hätte und die Band Konzerte nur noch für verbleibende Fans spielt, die irgendwie über Tims Vergangenheit hinwegsehen können, hat sich getäuscht. 

Ja, vielleicht hatte ich gehofft, dass sich mein Verhältnis zur Band ein bisschen wie das zu FIVE FINGER DEATH PUNCH entwickeln würde. Die fand ich ungefähr genauso lange geil, bis ich erwachsen wurde und die Mischung aus Nationalismus und Militarismus, Kapitalismus-Lobgesängen und zunehmend radikalem Trump-Geschwurbel irgendwann einfach kleinlich und abstoßend fand. Getreu dem Motto: Bumst schon gut, aber irgendwo ist Schluss.

Doch AS I LAY DYING machen es ihren Ex-Fans schwer. Ein neues Album steht in den Startlöchern. Die erste Single "Burden" war fett und ließ aufhorchen, das zuletzt erschienene "The Cave We Fear To Enter" ist gewaltig. Ja, ich habe versucht, es zu hassen. Aber es ist einfach verdammt gut.

Man möchte vergessen, was war. Die Geschichte dieser Band einfach ignorieren und sich einreden, dass sich Bands eben verändern und anders klingen als früher, dann die neuen Songs auflegen und genießen. Metal an, Lautstärke rauf, Herz wird warm. Doch AS I LAY DYING wird immer einen Beigeschmack haben.

Die Moral von der Geschicht': Wenn du machst gute Musik, bau bitte keine Scheiße nicht! Und erst recht keine Verbrechen. Kann doch nicht so schwer sein. Fuck, Tim!

Jakob

Ende der 90er war ich auf einmal da und entdeckte bald die Genesis- und Rolling-Stones-Platten meines Vaters.  Mit 11 fand ich eines Tages einen Metal Hammer im Kiosk meines Vertrauens, seitdem halten meine Eltern das für eine Phase, sind aber trotzdem stolz.
Mein Herz schlägt höher bei den meisten modernen Spielarten des Metal, besonders wenn das Suffix "-core" irgendwo zu finden ist. Neben Metal liebe ich Kaffee und Wein, was gelegentlich bei Reviews zum Vorschein kommt... 

Anmerkungen und Empfehlungen, Lob und Drohbriefe, Kochrezepte und Sonstiges: gerne per Instagram an jackl_p ;-)