Geschrieben von Sonntag, 25 August 2024 18:26

Was macht ein Punk im Orchester?

Clara de Grote Clara de Grote Foto: Sven-Kristian Wolf

Ich bin Punk und Orchesterfotograf. Stellt euch mich als jemanden vor, der in den 80ern mit den SEX PISTOLS, KRAFTWERK und ähnlich göttlichem Gejaule und Gefiepse groß geworden ist. Und stellt euch mich als jemanden vor, der seine Zeit nun leidenschaftlich damit verbringt, von Salzburg über Hamburg bis New York Orchester behind the scenes zu fotografieren.

Vor einem Jahr habe ich mein Projekt „Orchestrapunk“ ins Leben gerufen. Mein Ziel, meine Mission, wenn man so will, ist, klassische Musik vom unsympathischen Das-ist-Musik-für-Anzugträger-Image visuell loszueisen. Warum? Weil es nicht stimmt. Im Moment stehen die Ampeln auf Grün – zu Beginn meiner Arbeit standen sie auf Rot.

Aber auf Anfang

Als Spätpubertierender mit rot gefärbten Haaren, sieben Piercings und grünen Docs waren Postpunk, Hardcore und New Wave sowie meine eigene Band, in der ich den Bass holzte, mein Leben. Mehr oder minder gezwungen, mir bei einer Schulveranstaltung ein klassisches Konzert anzuhören, hockte ich mich in Ermangelung von freien Sitzplätzen auf den Boden und beobachtete ständig die Uhr eines Leidensgenossen. Als die Musik begann – ich lüge nicht! – wusste ich plötzlich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Es war Mozarts Requiem.

Jahrzehnte und ungezählte Indie-, Punk-, Ska- und Sinfoniekonzerte später kam mir der Gedanke, dass ich als Fotograf in der Lage bin, einen musikalisch-gesellschaftlichen Diskurs in Gang zu setzen. Also setzte ich mich mit kleinen Orchestern in Verbindung und fragte an, ob ich sie denn fotografieren dürfe, kostenlos. Meine einzige Bedingung war, sie mit den Augen eines Punks zu fotografieren.

"Nein, das kann man so nicht zeigen!"

Was soll ich sagen: Die meisten Fotografien fielen bei den Orchestern bzw. dem Management durch. „Nein, das kann man so nicht zeigen“, war eine oft gelesene Antwort, die mich in meiner Weltsicht, dass Orchester am besten im Vatikan aufgehoben wären, bestätigte.

Interessant wurde es erst mit der Zusammenarbeit mit einem der besten Jugendorchester der Welt, dem European Union Youth Orchestra, das mich vorbehaltlos die Orchestermusiker:innen und den Stardirigenten Antonio Pappano abseits des Champagner- und Alte-Leute-Images zeigen ließ. Und richtig spannend wurde es, als ich Sir Simon Rattle in München fotografierte, den einige von euch vielleicht durch den in Neukölln gedrehten Film „Rhythm is it“ kennen.

Der obige Vergleich mit der römisch-katholischen Kirche ist nicht zufällig, sondern notwendig. Der klassische Kulturbetrieb, der es sich nun mal in den Kopf gesetzt hat, Marketing primär für reiche und ältere Menschen zu betreiben, bewegt sich langsamer als eine Bischofssynode bei Glatteis – bei gleichzeitigem Gejammer, dass das Publikum überaltert. Erfreuliche Ausnahmen bestätigen die Regel.

Mahler in Lederjacke und Sneakern

Wenn dabei als ultima ratio auch noch auf die „Wurzeln unserer Kultur“ gepocht wird, anstatt die Magie zu transportieren, ist ein Konzertbesuch für Klassik-Neulinge so relevant wie der Wunsch, Kinder in die Welt zu setzen, um einmal in den Genuss der Rente zu kommen. Dabei wäre es ein Leichtes, zu sagen – und vor allem zu zeigen –, dass jeder Willkommen ist, sich einem zweistündigen Mahler, Stravinsky oder Brahms-Taumel hinzugeben. In Lederjacke und Converse-Sneakern.

Auch heute noch bekomme ich im Vorfeld oder nach getaner Arbeit negatives Feedback – was ja ok ist. Würden meine Fotografien allen gefallen, wären sie nicht Punk.

Ich habe ein festes Ritual vor jedem Shooting: 15 Minuten, bevor ich mich mit den Verantwortlichen treffe, setze ich mich mit Kopfhörern vor den Konzertsaal und höre Musik: „In A Bar Under The Sea“ von DEUS, „The Wörld Is Yours“ von MOTÖRHEAD oder den Soundtrack von „Fahrstuhl zum Schafott“ von Miles Davis. Das hilft mir, nicht in die übliche Konzert-Bildsprache zu verfallen, sondern zumindest zu versuchen, das zu zeigen, was klassische Musik für mich in erster Linie bedeutet: Rausch in seiner reinsten Form.

Orchestrapunk — SVEN-KRISTIAN WOLF blackandwhitephotography (skw-photo.com)

Sven-Kristian Wolf

Ich bin Punk und Orchesterfotograf.