Rückblick, Herbst 1987: Meine Schulklasse (10. Jahrgang) unternimmt eine Fahrt aus Hessen nach Berlin. Auch ein Tagesausflug hinter die ominöse Mauer, in den Osten der geteilten Stadt, steht auf dem Programm. Ich bin Anfang 16, zeige an Politik und deutscher Geschichte viel zu wenig Interesse und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es sein muss, nicht die Orte besuchen zu dürfen, die ich gerne sehen möchte – oder die Musik zu hören, die mir am meisten bedeutet.
In einem Kaufhaus in Ost-Berlin (ich denke, es war das Centrum Warenhaus am Alexanderplatz) frage ich eine Verkäuferin, ob es hier auch Heavy-Metal - Platten gibt, und sie antwortet freundlich, „Ja, Formel Eins“. Da ich unter diesem Titel nur die Sampler der gleichnamigen TV-Musikshow kenne (moderiert u.a. von Peter Illmann und Ingolf Lück), bin ich halbwegs verwirrt, als ich plötzlich eine Scheibe der Band FORMEL I in den Händen halte. Leider kann mich die Optik nicht überzeugen und ich stelle die für mich bedeutungslose deutschsprachige LP wieder zurück.
37 Jahre später: Ich stehe in der Ausstellung „Heavy Metal in der DDR“, die seit einem Dreivierteljahr in Berlin-Prenzlauer Berg zu sehen ist. An der Wand vor mir hängt besagte FORMEL I-Platte „Live im Stahlwerk“ – laut Begleittext die einzige offizielle Heavy-Metal-LP einer DDR-Band, die mit Zustimmung der damaligen Obrigkeit überhaupt erscheinen durfte!
Mal völlig abgesehen davon, dass ich der verpassten Chance, ein derart geschichtsträchtiges Album neuwertig und als Erstpressung in der DDR gekauft zu haben, nun hinterhertrauere, muss ich in dieser Ausstellung zudem erkennen: Ich war damals ein kleiner, ziemlich bornierter und gepuderter Schnösel, unwissentlich aufgewachsen im Heavy-Metal-Schlaraffenland!
Gefahr für öffentliche Ordnung!
Wenigstens kann ich behaupten, dass ich mich heute in der Lage sehe, vielleicht – zumindest halbwegs – nachzuvollziehen, was es damals bedeutet haben mag, in der DDR Heavy-Metal-Fan oder womöglich sogar Metal-Musiker gewesen zu sein. In einem System, das vier Jahrzehnte lang versucht hat, alles zu kontrollieren, und dessen Minister für Staatssicherheit Erich Mielke 1988 in solchen „Gruppierungen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit“ sah.
Ich muss es noch mal deutlich sagen: Allen, die sich damals in der DDR nicht von den ständigen Repressalien haben unterkriegen lassen, gilt mein allerhöchster Respekt!
Die Ausstellung, die Kuratorin Franziska Gottschling sehr liebevoll mit Hilfe von Menschen zusammengestellt hat, die „dabei waren“, ist übersichtlich, bietet aber dennoch einiges fürs Auge. Und sie gibt Einblick in eine kleine Szene, die auf ganz eigene Weise den westlichen Vorbildern nacheiferte und noch viel mehr als ihre Idole auf Mut, Einfallsreichtum und Eigeninitiative der Protagonisten angewiesen war.
Einen Hingucker – und damals ganz sicher einen Affront gegen das Regime und die verordnete Gleichschaltung – stellt allein schon die selbstgeschneiderte weiß-rote Lederhose von Jan Lubitzki dar. 1986 musste der frühere BLACKOUT-Schlagzeuger wegen versuchter Republikflucht für zwei Jahre ins Gefängnis. Nach der Wiedervereinigung erlangte Jan Lubitzki mit seiner markanten Stimme als Sänger von DEPRESSIVE AGE einen hohen, internationalen Bekanntheitsgrad, der bis heute anhält.
Abgerundet wird die Ausstellung durch Audio- und Video-Stationen, in denen Musiker und Fans von ihren damaligen Erfahrungen berichten.
„Heavy Metal in der DDR“ ist noch bis zum 9. Februar 2025 zu sehen, im Museum der Kulturbrauerei (Di-Fr 9-18 Uhr, Sa-So 10–18 Uhr), der Eintritt ist frei.
Neben Ausstellungsstücken von Jens Müller und Jan Lubitzki sind unter anderem seltene Fotoaufnahmen von Harald Hauswald, Claudia Bamberg und Mirko Stockmann zu sehen. Außerdem Bilder aus dem Bundesarchiv, denn auch die Stasi selbst besuchte Heavy-Metal-Konzerte, zum Beispiel in Görlitz, um derlei aufrührerische Zusammenrottungen heimlich zu fotografieren.
Buchtipp: „Bluessommer“
Bei der Gelegenheit abschließend noch ein passender Buchtipp: 2017 veröffentlichte Kay Lutter, Bassist von IN EXTREMO, seinen Debutroman „Bluessommer – Eine Geschichte von Freiheit, Liebe und Musik jenseits des Eisernen Vorhangs“ (LAGO-Verlag), in dem er seine eigenen Erfahrungen als junger Musiker in der DDR zu einer interessanten und kurzweiligen Coming-Of-Age-Geschichte verwebt.
Nicht alles, was der musikverrückte Mike beim Aufbegehren gegen das totalitäre System und auf seinem Weg zum Berufsmusiker erlebt, wird exakt so passiert sein. Doch es wirkt stimmig, wenn Mike ein ums andere Mal an der DDR-Bürokratie verzweifelt und wenn er und seine Bandkollegen sowie deren Freundinnen abends mit dem Kinderwagen losziehen, um auf dem Weihnachtsmarkt Scheinwerfer für ihre erste Bühnenshow zu klauen.
Zwar überzeugt mich das Ende des Romans nicht vollends, dennoch ist es ein gelungenes Erstlingswerk, das das Lebensgefühl einer vergangenen Ära transportiert, die ich aufgrund meiner Herkunft so nicht erlebt habe. Lesenswert!