Geschrieben von Montag, 11 November 2024 13:40

Was kann Musik?

Jinjer Jinjer Foto: Alina Chernohor

Was kann Musik?

Gut klingen, versteht sich. Gefallen, unterhalten, kritisieren, aufrütteln, beruhigen, beloben, manchmal auch mobilisieren. Die Liste ist lang. Kunst und Kultur haben viele Seiten, und nicht selten sind sie auch Spiegel gesellschaftlicher Erschütterungen, öffentlicher Ausdruck der Gefühle, Gedanken und Identitäten einer Gruppe, eines Volkes, einer Nation.

Das gilt ganz besonders für den Sound eines ukrainischen Quartetts, das seit 2009 auf den Namen JINJER hört. Er ist die unverhohlene Ausdruckskraft dieser Band, die weit über nationale Grenzen hinaus wirkt und für den unerschütterlichen Willen steht, auch in dunkelsten Kapiteln der Geschichte seinem Volk eine Stimme zu geben. 

Kompromisslose Qualität

JINJERs Musik ist filigran und komplex. Jeder Ton ist sorgsam gesetzt, jedes Riff greift ins nächste, das Zusammenspiel der Musiker gleicht einem künstlerischen Uhrwerk. Keine Spur von Effekthascherei, keine unnötigen Samples, kein Zierwerk, stattdessen melodische Tiefe und technische Virtuosität. Die Growls von Sängerin Tatiana Shmayluk zählen zu den brutalsten der Szene, stehen dabei aber stets in gekonntem Wechselspiel mit bemerkenswert klaren und kraftvoll hohen Gesängen.

Musikalische Progressivität mag eigentlich als Nischen-Genre gelten, komplexe Riffs und Rhythmen als wenig zugänglich, doch irgendwie gelingt der Band trotz hochkomplexer Taktarten immer wieder aufs neue der Spagat in moshpitfähige Gefilde. Und wer den Sound der Band kennt, erkennt ihn wieder und wieder. Der zunehmenden klanglichen Homogenität und fehlenden Selbstinnovation in der Musikszene macht sich JINJER also nicht im Ansatz schuldig. Im Spektrum der modernen Bands sind sie anders als die anderen, und das hat nicht nur im musikalischen eine besondere Signalwirkung. 

Botschafter

Einst als Running Gag unter Fans ironisch als „das Explosivste, was die Ukraine seit Tschernobyl hervorgebracht hat“ beschrieben, ein Vergleich eigentlich in völliger Verkennung der politischen Realität nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Wladimir Putin, ist die Band längst mehr als ein Geheimtipp der Progmetal-Szene.

Denn die Band aus Donezk, mitten im heute hart umkämpften Donbass, ist längst über ihre Rolle als Progressive-Groove-Metal-Maschine hinausgewachsen. Sie sind musikalische Diplomaten ihres Landes, Botschafter der Wehrhaftigkeit und der Gerechtigkeit, künstlerisches Symbol der Standhaftigkeit der freien Welt, vom ukrainischen Kulturministerium persönlich von der Pflicht des Kriegsdienstes entbunden, um auf den Bühnen der Welt ihrer eigenen Nation eine Stimme zu geben. 

Was die Band musikalisch ausmacht, lässt sich im übertragenen Sinne auch auf die Landsleute der Band sagen: Sie sind ungebrochen respektiert und geschätzt für Disziplin und Stärke, Eigenwilligkeit und Kreativität, Leidenschaft und Tatkraft.

Einem Angriff, der unverhohlen die Identität der Nation auszulöschen versucht, setzen JINJER mit einer künstlerischen Präzision und musikalischen Wucht und Kompromisslosigkeit ein musikalisches Echo entgegen, das jederzeit und mit jedem Recht an die Disziplin des ukrainischen Widerstands erinnert, mit der in der Ostukraine Tag für Tag die Existenz und die Souveränität des Landes und vielleicht der gesamten freien Welt verteidigt wird.

Denn mit der Rückkehr Donald Trumps in die politische Arena und seiner bekannten Ambivalenz gegenüber internationalen Allianzen droht der Ukraine auch der schwerwiegendste Verlust westlicher Unterstützung. Die Gefahr, im globalen Machtpoker weitgehend auf sich allein gestellt zu sein, lastet schwer auf den Ukrainerinnen und Ukrainern, und sie sollte uns allen zu denken geben. Der Wahlsieg Donald Trumps in den USA ist nur eine weitere Zuspitzung einer ganzen Reihe erstarkender rechter, nationalistischer und isolationistischer Bewegungen, die der Unterstützung der Ukraine skeptischer entgegenstehen, als es die Situation eigentlich gebietet.

Denn es ist töricht, das Land im Dunste eigener, nationaler Interessen sich selbst zu überlassen, denn in letzter Konsequenz verteidigen die ukrainischen Soldaten nicht nur ihr eigenes Staatsgebiet und ihre territoriale Souveränität, sondern auch das Selbstverständnis, die Werte und die Essenz eines freien Europas: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Respekt und Freiheit, Solidarität und Tatkraft, Würde und Anstand. All das ist im Interesse eines jeden Europäers und einer jeden Europäerin.

Hören wir hin

Für all das steht JINJER wie keine andere Band. Und umso wichtiger bleibt die Botschaft des Quartetts aus dem Donbass. Am 7. Februar erscheint das neue Album der Band. Schon die bisher erschienenen Singles verwiesen immer wieder auf die Situation in der Ukraine und lassen wenig Spielraum für Interpretationen, in welche Richtung Anschuldigungen wegen Fehlinformation, Blutrünstigkeit und gewaltsamer Besetzung fremden Territoriums gehen.

Hören wir hin. Die Stimme ist laut, und sie ist wichtig. Für JINJERs Landsleute, für Europa, für die Freiheit der Demokratie, gegen Autokratie und Diktatur, für die Zukunft. Die Botschaft ist mächtig, und sie trägt zu unser aller Freiheit bei. Das kann Musik.

Jakob

Ende der 90er war ich auf einmal da und entdeckte bald die Genesis- und Rolling-Stones-Platten meines Vaters.  Mit 11 fand ich eines Tages einen Metal Hammer im Kiosk meines Vertrauens, seitdem halten meine Eltern das für eine Phase, sind aber trotzdem stolz.
Mein Herz schlägt höher bei den meisten modernen Spielarten des Metal, besonders wenn das Suffix "-core" irgendwo zu finden ist. 

Anmerkungen und Empfehlungen, Lob und Drohbriefe, Kochrezepte und Sonstiges: gerne per Instagram an jackl_p ;-)