Geschrieben von Mittwoch, 13 Oktober 2010 00:00

Interview mit Stefán, Mastermind von ÁRSTÍÐIR LÍFSINS


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KERBENOKs avantgardistischer Pagan Metal hat ja schon für einiges Aufsehen gesorgt. 2008/09 lagen sie auf Eis. Buchstäblich. Der für Saiten und raue Stimmbänder zuständige Stefan war studienbedingt auf Island. Und hat „nebenher“ unter dem Namen ÁRSTÍÐIR LÍFSINS ein ebenso ungewöhnliches wie exquisites Album auf die Füße gestellt… Das gute Stück erschien am 8. Oktober. Und wir baten zum Interview.





Hæ Stefán hvað segir þú gótt? Oder wie wir Holsteiner sagen: Moin!

Sæll Dirk! Ég segir bara frábært, takk fyrir spurtningin.

Vorab, na klar: Glückwunsch, Kompliment und meinen Dank für das euphorisierende  „Jötunheima dolgferð“. Um gleich mal schön naiv und unwissend anzufangen: Was ist Jötunheimens Dolchpfad? Und in wiefern repräsentiert der Titel die Inhalte des Albums?

Vielen Dank für das Kompliment. Über das gesamte Album hinweg erleiden die Hauptperson und ihre Familie mehr oder weniger schlimme Schicksalsschläge, die in den Texten zumeist mythologisch gedeutet werden. Da die Riesen als direkte Nachbarn der Menschen einen entscheidenden Einfluss auf deren Leben haben, war der Name ein gutes Sinnbild.

Thematisch geht’s um die Besiedelungsgeschichte Islands, inkl. Alltagsgeschichten und den großen, existenziellen Themen. Ich habe in der Albumsrezension spekuliert, dass Du Dich bzw. Ihr Euch bei den Texten vom altistländischen Landnámabók habt leiten lassen.  Falls das stimmt, wie weit ist das gegangen? Wurden ganze Passagen zitiert? Oder sind die Geschichten vom Fischen, vom Leben und Sterben, von Intrigen etc. reine Eigengewächse?

Um genau zu sein, ereignet sich das Erzählte im letzten Drittel der Besiedlungszeit um 910 AD und befasst sich, später dann, mit den Folgen des etablierten isländischen Þingsystems ab 930 AD. In den Texten wurden keinerlei Passagen zitiert; alles, mal von der ríma abgesehen, ist von mir selbst geschrieben worden. Natürlich habe ich mich von bestimmen Erzählarten etwas leiten lassen, jedoch nie wirklich eine typische Schreibweise übernommen. Die Texte sind grundsätzlich aus Sicht jenes Menschen geschrieben worden, welcher zu der Zeit dort leben sollte. Allein dadurch unterscheiden sie sich bereits: sie sind tagebuchähnlich und vielleicht aufgrund der Bildsprache der kenningar auch poetisch. Das Landnámabók habe ich eher weniger beachtet, mal von den historischen Fakten abgesehen. Als direkte Vorlagen fallen mir ad hoc sogar nicht einmal welche ein.

Die Anfänge der Aufnahmen entstanden während Deines Studienaufenthaltes auf Island. Man vermutet: Skandinavistik oder Geschichtswissenschaft… ?

Ja, ich hatte an der Háskóli Íslands altnordische Sprach- und Literaturwissenschaften studiert. Die Geschichtswissenschaften sind logischerweise ebenfalls ein Teil des Studiums gewesen.

Das moderne Isändisch ist ja wohl vergleichsweise nah dran am Altnordischen, das die Wikinger sprachen… Was genau hören wir denn da: modernes Isländisch oder Altnordisch?

Das ist wirklich recht eigenartig. Um genau zu sein, sind die Texte eine Mischung aus dem Alt- und Neuisländischen. Da ich sowohl vom Ausdruck als auch durch die Benutzung der kenningar einen relativ archaischen Stil anstrebte, wirken viele Teile alt und daher schwerer zugänglich. Dennoch ist es immer noch flüssig und „leserlich“ geschrieben worden, was den neuisländischen Einfluss erklärt. Ich wollte ohnehin kein Auf-Teufel-komm-raus-Lyrik-Kunstwerk erschaffen, mit dem selbst Isländer nichts mehr anfangen können. Die Texte sollen ja schließlich auch ein paar Leute lesen können.

Könntest Du Dich mit Sæmundr fróði* oder Snorri Sturluson** unterhalten? Und was würdest Du gern mal mit denen beschnacken?



Na, die isländische Sprache ist über die Jahrhundert zwar relativ konstant geblieben, ihre Aussprache und besonders das poetische / „wissenschaftliche“ Vokabular hat sich aber ganz bestimmt sehr verändert. Ich hätte daher mit Sicherheit ziemliche Probleme, mit den beiden in eine längere Diskussion zu kommen, immerhin liegen zwischen unseren Leben ca. 750 Jahre und so einige tiefgründige gesellschaftliche Veränderungen. Aber gehen wir dennoch einmal davon aus, ich könnte mit ihnen fließend sprechen: ich würde beide logischerweise besonders auf ihre Schreibtätigkeit hin ausfragen. Also in welcher Form und in wie großen Ausmaß sie ihre eigenen Gedanken in die wiederum abgeschrieben, überlieferten Schriften mit einbrachten, ob sie wissen, wie Original ihre Vorlagen waren, woher diese kamen und so weiter. Sicher dieselben allgemeinen Fragen, die jeden Altnordisch-Interessierten seit jeher quälen.



Wie war das: Bist Du mit dem Vorsatz nach Island gegangen, nebenher die Basis für ein Album zu legen, oder ist Dir Árni zufällig über den Weg gelaufen und ihr habt spontan beschlossen, etwas Gemeinsames zu machen?



Ich hatte bereits während meiner Reise nach Reykjavík die Idee entwickelt, mich sowohl musikalisch als auch textlich mit dem Thema zu befassen. Árni hatte ich dann im Herbst 2008 im Grand Rokk (r.i.p.) zusammen mit einem guten Freund namens Tómas von Carpe Noctem getroffen und erzählte ihm von meinen Ideen. Im Spätherbst begann dann die Vorproduktion für das Album.

Die etappenweise Entstehung von „Jötunheima dolgferð“ unterscheidet sich ja vielleicht gar nicht so sehr von den Aufnahmen für KERBENOK. Zumal Ihr da ja auch gerne mit Gästen arbeitet. Gab es vielleicht dennoch für Dich irgendwelche Überraschungen bei den Arbeiten? Positive wie negative...



Nein, die Herangehensweise ist schon eine grundverschiedene. Bei KERBENOK proben wir bestenfalls mehrere Male pro Woche und arbeiten während den Proben viel an dem Songmaterial. Die Gastmusiker holen wir dann erst relativ spät ins Boot; dann, wenn alles andere zum größten Teil steht. Bei Árstíðir lífsins ist dies anders verlaufen. Da kam ich zu jeder Probe mit ganz konkreten Ideen, die wir größtenteils auch direkt umsetzen konnten. Überraschungen bei den Arbeiten hatte ich eigentlich nicht, nein. Ich war letzten Endes vielleicht etwas verwundert, wie viele Spuren sich während der Aufnahmen angesammelt hatten, aber das ist heutzutage im Studio nun wirklich nichts Besonderes mehr.

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Bei dem leckeren Artwork, das wie die KERBENOK-Sachen von „Eingemachtes“  stammt
(d.h. von Christopher Duis, der andere Kopf hinter KERBENOK, d. Verf.) fällt auf, wie sehr sich Alt & Neu verbinden: Faksimiles einerseits, Photographien andererseits. Verbunden quasi durch die Farbgebung in Pergament / Sepia. Absicht? Oder bloß von mir überinterpretiert?

Nein, die Verbindung wollte ich bewusst hervorheben. Da die jeweiligen Fotografien alle den ungefähren Platz der bestimmten Texte wiedergeben, war der Bezug ja von vornherein gegeben. Christopher hat eine hervorragende Arbeit geleistet und wirklich keine Mühen gescheut, meinen teilweise eigensinnigen Ideen Realität zu verleihen. Beispielsweise hat er die Schrift komplett auf Vorlage dreier isländischen Handschriften selbst gebaut und die historischen Initialen eigenhändig gemalt. Ich bin mit dem Layout vollends zufrieden. Mein Dank gebührt also voll und ganz Christopher für seine großartige Arbeit.

Ohnehin berühren sich im typischen „paganen“ Black Metal mit Folk-Intarsien ja Moderne und Tradition. Bei ÁRSTÍÐIR LÍFSINS aber nimmt das, wie ich finde, eine ganz andere Qualität an: Versuch mal bitte zu erklären, woran es liegt, dass das Album so bündig und authentisch klingt… Und was es Deiner Ansicht nach von den typischen --insbesondere typisch deutschen-- Pagan Metal Veröffentlichungen unterscheidet?

Mir war es bereits zu Beginn sehr, sehr wichtig, dass das Album ein zusammenhängenes Werk wird und dementsprechend einem geschlossenen Konzept folgt. Ich hatte dementsprechend genau darauf geachtet, Übergänge zwischen den Liedern, bzw. auch in den Liedern, sehr flüssig vonstatten gehen zu lassen, sodass diese, im besten Fall, vom Hörer gar nicht bemerkt werden. Ob das Ergebnis der Arbeit jetzt authentisch ist, möchte ich bezweifeln…

(Deswegen sagte ich: es „klingt authentisch“…)

Sicher, in „Jötunheima dolgferð” ist wohl wesentlich mehr wissenschaftliche, bzw. aufmerksamere Arbeit geflossen als im großen Teil anderer Veröffentlichungen, aber authentischer wird das für mich dann auch nicht. Vielleicht eher überlegter und durchdachter. Der grundsätzliche Unterschied, den man zu anderen Veröffentlichungen findet, ist vielleicht der, dass ich wesentlich stärker den Fokus auf die mittelalterlichen Handschriften, die Buchmalerei, bekannte Erzählstrukturen, auf kenningar usw. gelegt habe und nicht einer romantisierten, neumodischen Vorstellung den Vorrang gegeben habe. Aber das stand sowieso zu keiner Zeit zur Debatte.

Mit welchen Attributen würdest Du die Stimmungen umschreiben, die „Jötunheima dolgferð“ wesentlich bestimmen?

Für mich hat dieses Album eine gewisse typisch-isländische Schwermut eingefangen, auf die ich stolz bin. Vielleicht treffen die Bedeutungen der Begriffe Naturwesen, Götter, Riesen, Machtlosigkeit, Verbitterung, Tod, aber auch Familie, Gesellschaft und Überleben ganz gut den textlichen Inhalt. Betreffend der Musik fällt es mir schwerer, einzelne Attribute benennen zu können; dafür ist mir das Spektrum zu weit und die Musik über die Monate zu privat geworden.

Beinah „modernistisch“ mutet der Einsatz des Vibraphons an. Im Metal ist das Instrument ja eher unüblich; tatsächlich fällt mir ad hoc dazu nur noch Deine „Hauptband“ ein. Ist ja sonst eher etwas für Swing-Jazz oder so. Wieso zerstört es den Charakter nicht, unterstreicht ihn viel mehr? Ebenso ist das Piano ja nicht unbedingt etwas, das man mit Langschiff und Schildwall in Verbindung bringt. Bloß probates Mittel, den Clichés zu entgehen? Oder gezielter Brückenschlag zwischen den Zeiten?

Ach, weißt du, wenn es um authentische, wikingerzeitliche Instrumente geht, so haben wir als Metal-Musiker grundsätzlich schon mal schlechte Karten: Gitarren, Schlagzeug und so weiter hätten  im Bezug auf Authentizität genau denselben Stellenwert wie ein Vibraphon oder Keyboards. Würde es danach gehen, hätten wir besonders im isländischen Raum allein die rímur-Gesänge und sonst nichts. Bis heute ist kein einziges Instrument aus dem Mittelalter auf Island gefunden worden und lässt dementsprechend die Forschung im Dunklen. Grundsätzlich hatte ich in keiner Weise Interesse, eine authentische musikalische Form wiederzugeben (die ríma logischerweise einmal ausgeklammert). Ich verwendete für das Album schlichtweg die Instrumente, die mir für die jeweilige Stimmung zuträglich erschienen. Da ich das Vibraphon und seinen Klang bereits von den letzten KERBENOK-Aufnahmen her kannte, wollte ich es auch für Árstíðir lífsins benutzen.
Wieso es den Charakter der Musik nicht zerstört? Vielleicht habe ich genügend Feingefühl um solchen „exotischen“ Instrumenten genügend Anpassung zu verleihen. Beispielsweise benutzen NEGUR?  BUNGET ja ebenfalls eine relativ breite Auswahl an Metal-untypischen Instrumenten und setzen diese auch immer wieder sehr passend ein.

Andersherum: Mal abgesehen von der sehr dezenten Bodhrán kommen auch keine anderen traditionellen Instrumente zum Einsatz. Keine Flöten,  keine Borduninstrumente… Auch hier die Frage nach der Clichévermeidung…

Ach, reine Neugier…

Jener Bodhránspieler „Kristófr“ ist nicht zufällig Christopher Duis?

Ja, ist er. Ich hatte ihn bereits kurz nach meiner Rückkehr nach Deutschland im Sommer 2009 gefragt, ob er Interesse hätte, einige Parts einzuspielen.

Und wo wir grad dabei sind: Sveinn an den Keys… Ich hatte auf „Sveinn“ Dinninghoff getippt, was Sven sofort mit viel Selbstironie dementiert hat. Deshalb: Wer ist der andere Sveinn?

Stimmt, da hast du dich vertan. Der wirkliche Sven ist ein guter Freund von mir, der bereits auf dem letzten Werk von KERBENOK einige Synthies eingespielt hat. Er stammt hier aus der Region und ist ein phantastischer Musiker, spielt aber selber wesentlich lieber Fusion, Prog Rock und Jazz. Mit Metal hat er nicht viel zu tun.

Und wo wir gerade dabei waren: Beide KERBENOK Releases sind bei Northern Silence erschienen, wie kam es zur Zusammenarbeit mit „Sveinn“ bzw. Ván?

Das ist relativ unspektakulär verlaufen. Ich hatte den Endmix mit einigen Infos unter anderem an Ván Records geschickt. Ihnen gefiel das Material sehr gut und wir kamen bald darauf ins Gespräch.

Zurück zum Thema: Bei den Chören und bei der ríma***, die neben den Erzähl-Passagen eindeutig die „folkloristische“ Hauptlast tragen, hattest Du Unterstützung von drei Mitgliedern (Kristján, Colin, Þórarinn) des isländischen Hochschulchors… Wie weit ging deren Hilfe, sie werden doch nicht einfach nur vom Blatt gesungen haben?!

Tja, ich schätze, das haben sie doch getan. Rímur haben auf Island eine sehr, sehr lange Tradition (de facto seit dem Mittelalter) und werden auch heute noch beispielsweise bei Parties selbst von Jüngeren gesungen. Da sowohl die Melodien als auch die Reimschemata sehr einfach sind, kamen die drei eines Abends vorbei und wir nahmen das Stück auf, ohne wirkliche vorherige Übung. Natürlich haben wir noch einige kleine Veränderungen vorgenommen, um etwas mehr Dynamik in das Material zu bringen; größtenteils ließen wir aber das Meiste so wie es war, schließlich sind diese sogenannten Zwiegesänge mit ihrer Halbtonpentatonik ja im großen Maße bereits durch eine Hauptmelodie fertig komponiert. Bis auf die ríma hatten die drei Sänger nichts Weiteres auf „Jötunheima dolgferð” eingesungen. Ich denke, das wird sich aber auf dem folgenden Album ändern.

Auffällig ist der narrative Charakter der „lyrics“… (Leider habe ich das PDF-File erst nach der Rezension entdeckt…) Mehrere Seiten Fließtext… Warum hätte Strophe / Refrain / Strophe nicht halb so gut funktioniert?

Das erklärt sich eigentlich von selbst. Die Texte sind, wie auch die Musik, nicht darauf ausgelegt gewesen, in ein typisches Schema zu passen. Außerdem wäre mir das bei der textlichen und musikalischen Tiefe auch viel zu banal gewesen. Ich schreibe seit jeher sehr wenig Musik mit Wiederholungen (mal von meinen bescheidenen Teil in der Pop/Rock-Band ABOUT FADING abgesehen), und möchte lieber komplexe Ideen verfolgen. Auf der anderen Seite wäre ein Text in der herkömmlichen Form aus meiner Sicht sehr langweilig und vor allem nicht passend für die Thematik gewesen.

Bei KERBENOK steht erst die Musik und Christopher schreibt die Texte „obendrauf“… Du bist andersherum verfahren, vermute ich?

Sowohl als auch. Ich schrieb die Texte über die Monate neben der Musik. Da jedoch die grobe Linie der Stroryline bereits sehr früh feststand, hatte sich die Musik auch an ihr orientiert.

Bei KERBENOK schreibt ja Christopher alle / die meisten Texte. Und der orientiert sich eher am „normalen“ Textschema… Der epische Stil von ÁRSTÍÐIR LÍFSINS würde, glaube ich, auch zu KERBENOK ganz gut passen … Hättest Du nicht Lust…?

Nein, ich möchte Christopher bei den Texten alle Freiheit lassen, die er haben möchte. Sicher habe ich auch hin und wieder Ideen, jedoch bin ich mit seinen Texten eigentlich immer vollends zufrieden. Er hat einen sehr poetischen und intelligenten Stil, der mir sehr zusagt. Außerdem würde meine Form des Schreibens nicht wirklich zu KERBENOK passen, denke ich.

Eine der Parallelen zwischen KERBENOK und ÁL sind die sehr positiven, lebensbejahenden Züge, die bei aller Melancholie und schwarzer Aggressivität Eure Musik durchziehen. Wie geht das zusammen: Black Metal und Lebensbejahung? Oder allgemeiner: warum ist BM nicht bloß für satanische und nihilistische Verse das richtige Medium?

Nun, die grundsätzlich moralische Ausrichtung bei Árstíðir lífsins ist relativ neutral. Ich habe versucht, ethische Ideale nur dann mit einfließen zu lassen, wenn diese sich in immerhin einer „glaubwürdigen“ Schriftquelle aus der ungefähren Lebenszeit jenes Menschen widerspiegeln. Selber möchte ich mit „Jötunheima dolgferð” keine moralische Intention verkörpern, da mein Interesse eher bei einer relativ objektiven Betrachtung der Frühgeschichte Islands liegt.
Bei KERBENOK hingegen haben wir wesentlich direktere Aussagen, da hast du recht. Da wir seit der ersten Demo versuchen, gesellschaftskritische Ansichten und eigene Erfahrungen mit der Umwelt in den Texten wiederzugeben, sind hier die ethischen Ansätze wesentlich klarer zu erkennen. Weshalb diese nun wie in unserem Fall mit Black Metal in Verbindung stehen, ja, da kann ich dir auch keine direkte Antwort geben. Es ist vielleicht jene aggressive Grundstimmung im Black Metal, verbunden mit einer gewissen ungreifbaren Mystik, die man mit der Musik erschaffen kann. Bei KERBENOK geschieht dies dann textlich in Verbindung mit der direkten Umwelt, gleich ob diese nun gesellschaftlich oder die eines Waldes ist.
Black Metal ist, allgemein betrachtet, aus meiner Sicht schon seit mindestens 15 Jahren nicht mehr mit dem anfänglichen, rein satanistischem Grundgedanken gleichzusetzen. Dass sich die Intentionen über die Jahre so stark verändert haben, ist vielleicht einfach nur eine typische Entwicklung im Bezug den stark gewachsenen Hörer- und Musikerkreis im Black Metal. Beispielsweise haben FLEURETY damals ihr Debüt nicht ohne Grund „Min tid skal komme“ benannt...

Bei aller Neutralität: „Lifðu með oðrum, með þínum eigin“ ist so ein eindeutig positives Signal: ein Hohelied auf Freyja, d.h. auf die Familie, die gemäß dem Text unserem Leben erst den Sinn gibt. Das Vokabular ist „antik“, das Thema aber ist aktueller denn je…? Oder ist das bloß die Meinung von dem „lyrischen Ich“?

Ich möchte ungern mich mit dem zu Recht erwähnten „lyrischen Ich“ gleich setzen und sehe die Metaphern auf „Jötunheima dolgferð” immer im Bezug zu anderen Teilen des Albums. Auf der anderen Seite hast du natürlich Recht, und es war wohl unbewusst auch zum Teil mein Anliegens, gewisse ethische Grundsätze zu verarbeiten. Es war jedoch mit Sicherheit nicht gewollt, Kritik an der heutigen Gesellschaft zu üben. Das wäre in der Form obsolet.

Sind Begriffe wie Freyja, Schicksal etc. für Dich mehr als bloß literarische Metaphern? Und falls ja: wie gelingt es Dir, heidnisches Gedankengut in die technokratische Welt des 21. Jahrhundert zu integrieren?

Es kommt immer auf den Hintergrund, auf das Beispiel an. Auf der einen Seite betrachte ich diese Begriffe natürlich als klassische Metaphern, beispielsweise in den Sagas, den Þættir oder der Skaldik. Im alltäglichen Leben betrachte ich jedoch diese „Begriffe“ / Symbole je nach Situation aber durchaus auch aus naturphilosophischen / naturreligiösen Blickwinkeln; nehme einige Veränderungen um mich herum wesentlich rationalferner war, als vielleicht manch anderer. Grundsätzlich halte ich mir immer die Option offen, nicht alles durch für uns logische Gedankengänge zu erklären. Heidnisch ist dies vielleicht allein in dem Gedanken, etwas fern der Rationalität zu interpretieren und dem Schicksal/Göttern/usw. die Sinngebung einiger Erfahrungen zuzuschreiben. Ob dies nun einer Integrierung in der urbanen Welt gleichkommt, möchte ich dem Leser überlassen.

Ich formulier das noch mal anders: Die Schönheit und die Härte der Natur ist Dreh- und Angelpunkt; bei KERBENOK wie bei ÁL… Das nimmt bei Euch fast mystische, religiöse Ausmaße an: Wenn Natur aber keine tote Dingwelt ist, sondern im strengen Sinne „göttlich“, welche Konsequenzen ziehst Du daraus… Mal von Ökostrom und anderen zeitgemäßen „grünen“ Selbstverständlichkeiten abgesehen? Praktizierst Du heidnische Rituale? Oder erschiene Dir das zu naiv?

Ich betrachte die Natur bereits seit meinem Kindesalter mit einer gewissen Göttlichkeit. Grundsätzlich sind über die Jahre natürlich viele wissenschaftliche Erkenntnisse und Ansichten hinzugetreten, der Grundgedanke ist jedoch derselbe geblieben. Beispielsweise erklärt mir Darvin nicht, wie die Welt funktioniert, ob nun durch ein Flügelschlag Wirbelstürme ausgelöst werden oder nicht, und so weiter. Es ist eher eine aufmerksame Betrachtung der Umwelt, ein angemessener Respekt, mit dem ich der Natur begegne. Dementsprechend halte ich durchaus selbst in heutiger Zeit Rituale für wichtig, beispielsweise zum Mittsommer, zum Mittwinter oder zum Erntedankfest. Naiv ist mir also ein naturreligiöses Ritual in keiner Weise. Es ist vielleicht nur nicht immer der jeweiligen Umgebung, beispielsweise in der Stadt, angemessen.

Ist Eure Musik so etwas wie ein ausgelebter Fluchtreflex? Als Hörer müsste ich das zugeben. Und Du als „Macher“?

Nein, ehrlich gesagt eher weniger. Ich erschaffe Musik ganz dem Gefühl nach, das ich zu dem Zeitpunkt habe und wandle sie dann mit der Zeit in Songstrukturen um. Dabei habe ich eher weniger den Willen oder Reflex, vor etwas zu fliehen. Musik ist für mich ein grundsätzlicher Begleiter meines Lebens.

Was an den Lyrics auffällt: dass sie so gar nicht naiv und clichébelastet, sondern fundiert wirken und trotz der sehr poetischen Sprache überaus realistisch rüberkommen. Und nur wenig Raum für romantische Schwärmerei bieten. Trotzdem die hypothetische Frage: Hättest Du gern in den Tagen eines Ingólfr Arnarson gelebt?

Nein, sicher nicht. Ich freue mich - wie wohl jeder andere halbwegs gebildete Mensch - über einen Großteil unserer technischen, medizinischen usw. Fortschritte und möchte kaum mit dem Leben eines Nordeuropäers um die erste Jahrtausendwende herum tauschen. Die Besiedlungszeit bzw. Frühgeschichte Islands betrachte ich eher aus den Augen eines Philologen und Wissenschaftlers, nicht mit den eines Romantikers, der längst vergessene Ideale aus einer völlig anderen Zeit versucht zu mystifizieren. In der Malerei funktioniert dies gewiss hervorragend, jedoch nicht in der Literatur.

„Eigi hefr á augu unnskíðs komit síðan“ ist a capella und eine ganz traditionelle ríma, die den Hörer direkt ins 10. Jahrhundert, in ein isländisches Langhaus beamt. Sicher das „direkteste“ Stück… Ein komplett metallfreies Album, eventuell traditionell instrumentiert im Stil von WARDRUNA oder SKYFORGERs „Zobena Dziesma“, könntest Du Dir für Dich nicht vorstellen?

Ich mag die erwähnten Werke sehr, könnte mir so etwas aber weniger vorstellen, selbst zu komponieren. Mir fehlt über die Länge der Spielzeit schlichtweg die Abwechslung. Die ríma hatte ich aufgrund ihrer willkommenen Abwechslung, ihrer Authentizität usw. mit auf „Jötunheima dolgferð” genommen. Jedoch halte ich es für unpassend, gleich ein ganzes Album mit rímur aufzunehmen. Die Vielschichtigkeit und Dynamik eines Albums ist für mich besonders im Metal immer sehr wichtig gewesen.

Überhaupt: ist „Jötunheima dolgferð“ als einmaliges Experiment gedacht? Oder gibt’s irgendwelche Pläne?



Das Komponieren für die nächste Produktion hat vor einer ganzen Weile begonnen. Sowohl das textliche als auch das musikalische Konstrukt stehen größtenteils relativ fest. Ich denke daher, dass die kommende Scheibe dann bis spätestens Ende Frühjahr 2011 eingespielt sein wird. Sowohl textlich als auch musikalisch wird sie direkt an „Jötunheima dolgferð” anschließen.

Stichwort „Gigs“: die sind ja schon für KERBENOK problematisch. Für ÁRSTÍÐIR LÍFSINS aber undenkbar, nehme ich an?



Live-Auftritte sind in nächster Zeit absolut unrealistisch, stimmt. Das Einüben von weiteren Session-Musikern würde mir zu viel Energie und Zeit rauben, außerdem sind wohl die Flugkosten für die isländischen Musiker nicht gerade eine niedrige Summe.

Habt ihr für KERBENOK eigentlich schon einen zweiten Gitarristen gefunden? Wäre jemand wie Christian Kolf (u.a. VALBORG, ISLAND, d. Verf.) nicht perfekt? Oder was für einen Typ sucht ihr?

Nein, wir haben nach wie vor keinen zweiten Gitarristen gefunden. Christian wäre passend, hat aber mit Sicherheit mit seinen Zeitgeister-Bands genügend zu tun. Außerdem ist die Entfernung zwischen Bonn und Kiel/Bad Segeberg auch nicht gerade leicht überwindbar. Mit KERBENOK live zu spielen ist natürlich eine großartige Angelegenheit, die wir jedoch ohne einen zweiten Gitarristen vorerst nicht angehen werden.

Steht sonst noch Neues bei KERBENOK an? Wird es mal wieder ein „Av is og Ild“ geben (kleines, aber feines Festival, das von der Band selbst veranstaltet wurde; u.a. waren schon NEGUR?  BUNGET und MÅNEGARM am Start, d. Verf.)? Es war ja eines für 2010 angekündigt, aber irgendwie hat man nie wieder etwas gehört?

Tja, das ist immer wieder dasselbe Problem: Ich hatte bereits 3 Mal das „Av is og ild“ wieder veranstalten wollen (und ein Großteil schon vorbereitet, incl. aller Bands), jedoch hat sich immer wieder entweder kein Kostenträger finden können oder dieser dann letztenendes doch kein Interesse gehabt. Ich bin selbst in keiner Weise daran interessiert, mit großen Eigenkosten das Festival zu veranstalten, da ich ohnehin den Reingewinn spende. Mit anderen Worten: wenn es nicht Kulturträger o.a. finanzieren, wird aus dem Festival auch nichts.

Abschließend: Leute, die interessante Musik machen, bitte ich gerne um Plattentipps… In Deinem Fall frage ich gleich zweimal: allgemein und gezielt nach skandinavischem / isländischem Folk.

Nun, da mache ich der Einfachheit halber eine kleine Liste, was mir in letzter Zeit sehr gefallen hat:

Allgemein:

Helrunar - „Sól“ (D)
Todtgelichter - „Angst“ (D)
Skardus - “Skardus” (D)
Myrká - „13“ (IS)
Severed Crotch - „The Nature of Entropy“ (IS)
Vrani Volosa - „Heresy / Epic“ (BG)
Obtest - „Gyvybes Medis” (LV)
Galar - „Til alle heimsens endar“ (N)
Helheim - “Kaoskult” (N)
Nàttsòl - „Stemning“ (N)
Ulver - „A quick Fix of Melancholy“ (N)
Enslaved - Axioma Ethica Odini (N)
Finnr´s Cane: „Wanderlust“ (CA)
Les Discrets - „Septembre et ses dernières Pensées“ (FR)

Skandinavischer / isländischer Folk:

Valravn - „Koder på snor“ (FO/DK)
Eivør Pálsdóttir - „Kraukan“ (FO)
Krauka - “Bylur” (DK)
Amiina - „Kurr“ (IS)
Anna Pálína & Draupner - „Sagnadans“ (IS)
Kammerkórinn Carmina - „Melodía“ (IS)
Vàli - „Forlatt“ (NO)
Nest - „Kynnenjäljet“ (FIN)
Ranarim - „Til ljusan dag“ (SE)
Lönndom - „Viddernas Tolv Kapitel“, „Fälen från Norr“ (SE)
Triakel - „Triakel“ (SE)
Garmarna - „Guds Spelemann“ (SE)

Das letzte Wort hat immer der Gast…

Vielen Dank für das Interview.