Geschrieben von Montag, 28 März 2005 00:47

Kettcar - Interview mit Bassist Reimer Bustorff zum zweiten Album, zum Erfolg und zum Label



KETTCAR sind die deutsche Band der Stunde. Von Fans und Kritikern gleichermaßen gefeiert, starten sie ihre Tour zum zweiten Album „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ in Göttingen. Im Hörsaalgebäude der Uni – und nicht etwa, wie angekündigt, im wesentlich kleineren Jungen Theater. BurnYourEars machte es sich mit dem äußerst relaxten Bassisten, Labelmitgründer und Teiltexter Reimer Bustorff vor dem Gig in einer hinteren Hörsaalbank gemütlich, um bei Kippen und Bier rund fünfzig Minuten lang über das Album, das Plattenlabel und den Wahnsinn des Erfolgs zu plaudern.

... und Reimer beginnt:

Junges Theater war so ratz-fatz ausverkauft, und für uns ist das dann natürlich total ätzend. Denn wir haben es auch schon gehabt, dass Leute dann vor der Tür standen, nicht reingekommen sind und dann enttäuscht waren, oder dass dann bei eBay Karten für 70 Euro verscherbelt werden, und da haben wir halt keinen Bock drauf. Und so gut kennen wir uns dann hier nicht aus und haben dann eben nach etwas Größerem gesucht, und dass es dann hier so ein Beton-Klotz ist, nun ja ... Vorhin habe ich ein Interview mit jemandem gehabt, der meinte, ein paar Freunde von denen kommen jetzt nicht, weil das hier so groß und unpersönlich ist …

... man sollte ja meinen, dass die Musik wichtiger ist, als der Laden …

Ja, ich weiß auch nicht, naja.

Ihr seid jetzt extrem durchgestartet. Schon mit der ersten CD ging's gut ab, und jetzt mit dem zweiten Album noch mehr, auch in den Zeitungen; mittlerweile berichten ja fast alle Feuilletons über Euch. Da Ihr mit Eurem Label sehr eng in Verbindung steht und das teilweise auch selbst macht, frage ich mich, inwieweit es da noch möglich ist, eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren, also sozusagen „independent“ zu bleiben. Auf der einen Seite muss Geld reinkommen, sonst geht Euer Label vor die Hunde, auf der anderen will man sich ja als Musiker frei machen von solchen Gedanken …

Also independet ist man ja sowieso. Also das sind wir ja, denn der Begriff „independet“ umschreibt ja eigentlich, dass das Label nicht noch nebenbei irgendwie Waschmaschinen verkauft oder so. Aber ich weiß schon, natürlich ist uns total bewusst, dass, wenn dieses Album jetzt floppen würde, wonach es ja nicht aussieht zum Glück, und wenn das nächste Tomte-Album auch floppen würde, dass es dann hart wird. Dann glaube ich auch nicht, dass wir das Label irgendwie aufrecht erhalten können. Insofern hat man schon einen gewissen wirtschaftlichen Druck.

Spielt das auch eine Rolle, wenn Ihr im Proberaum steht?

Nein. Also wirklich überhaupt nicht. Wir können ja auch gar nicht anders, also bewusst kommerziell Musik machen. Wir haben uns mit den Songs zweieinhalb Jahre Zeit gelassen, ich meine, wir hätten – wenn dem so wäre – das Album auch viel früher raushauen können. Wir kommen aus dem Punk und wissen ungefähr, wie das alles funktioniert und machen die Musik so aus dem Bauch heraus und haben da nie irgendwie … Also Druck haben wir schon, ganz klar, auch weil die Erwartungen hoch sind, aber da irgendwie versuchen, das marktgerecht zu machen, das können wir, glaube ich, auch gar nicht. Dafür sind wir auch musikalisch gar nicht gut genug. (lacht) Ich wüsste auch wirklich nicht, wie's geht.

Gut, aber der Druck, dass es funktionieren muss, ist eben doch da.

Ja, sicherlich. Aber das ist auch ein Anspruch, den die gesamte Band hat, und den das Label hat: Mit dem zweiten Album müssen sie mehr verkaufen, als mit dem ersten. Das ist aber auch bei einer Band wie MARR so, also dass wir sagen: Das ist ein Debüt, ein Aufbauthema, da stecken wir Geld rein, weil wir erwarten, dass es sich irgendwann rechnet. Und weil wir wissen, das ist gut, weil wir es selber lieben und weil wir glauben, da draußen könnten es die Leute auch gut finden. Insofern haben wir dann auch den Anspruch, dass das zweite Album dann mehr verkauft, ganz klar.

Ich will Dich eigentlich kaum zu den Texten befragen, denn in fast jedem Eurer Interviews geht es hauptsächlich um die Lyrics. Ich messe Eurer Musik da gleichen Wert zu und habe es selbst ganz gerne, wenn man nicht alle Texte erklärt und vorgekaut bekommt. Aber ich denke dennoch, dass man gelebt haben muss, um Eure Texte zu verstehen, auch um die Musik und die Idee hinter KETTCAR zu verstehen.

Ja … glaube ich auch, das sehe ich genau so. Wir sind ja jetzt auch nicht mehr die Jüngsten und ich glaube schon, dass wir insgesamt ziemlich viele Erfahrungen gesammelt haben, die sich in den Texten teilweise widerspiegeln. Vieles ist aber auch einfach nur beobachtet, und das kann Marcus einfach wahnsinnig gut umsetzen in den Texten. Aber KETTCAR ist schon eine Band, die einfach auch über die Texte funktioniert …

… und die auch ganz stark von den Leuten so wahrgenommen wird.

Ja klar, ich meine, wir sind ja auch nicht die Band, die jetzt musikalisch große neue Entwürfe bietet, so wie THE NOTWIST zum Beispiel, die ja viel anspruchsvollere Musik machen, als wir das tun. Auch weil wir's nicht können und weil wir's auch einfach nicht wollen. Wir sind alle Liebhaber von kurzen, dreiminütigen Popsongs, die ins Ohr gehen, 'nen Chrous und 'ne Hookline haben und so funktionieren, wie ein Popsong eben funktioniert. Es liegt uns fern, irgendwelche verschrobenen Sachen zu machen.

Lasst Ihr Euch dabei dennoch musikalisch beeinflussen?

Beeinflussen … also was wir so hören, ist hauptsächlich englischsprachige Musik und ich glaube, einstimmig finden wir immer gut, was viele einprägsame Melodien hat. THE SMITHS sind ein großer Einfluss für mich gewesen, seit jeher, wir mögen auch WEEZER oder OASIS natürlich, aber es ist schon auch weit gefächert. Ich kann mir auch gut einige Elektro-Sachen anhören, aber größtenteils bin ich natürlich Fan von Gitarrenmusik. THE NOTWIST finde ich eben auch klasse, weil die viel mit Elektro machen und neue Ansätze haben, was total spannend und interessant ist, aber es ist halt nichts, was ich jetzt kann.

Die Elektro-Elemente habt Ihr ja auch in Eurer Musik …

Versucht ja (lacht), aber wir haben sie jetzt ein bisschen herausgenommen. Das ist vielleicht so ein Einfluss … also das ist auch viel von mir, diese Elektrosachen, die beim ersten Album drin sind, das macht ja auch wahnsinnig viel Spaß. Ich stand schon unter dem Einfluss des letzten NOTWIST-Albums – war es das letzte? –, na auf jeden Fall sind das so Sachen, die ich super finde und was ich dann selbst auch ausprobiere. Und so funktionieren alle Songs eigentlich.

Wer schreibt die Musik hauptsächlich?

Das machen wir eigentlich zusammen. Es ist meistens so, dass einer irgendeine Idee einwirft und dann basteln wir da so dran rum. Aber es gibt auch Songs, die zieht einer komplett alleine durch. „Balu“ zum Beispiel hat Marcus ganz alleine geschrieben im Grunde.

Entstehen die Texte parallel oder kommen die erst später dazu?

Also erst die Texte eigentlich nie, meistens kommen die später dazu. Das wäre ja so, als ob ich ein Gedicht schreiben würde, wenn ich keine Musik dazu hätte, und das könnte ich, glaube ich, gar nicht. Und Marcus macht das auch nicht so … Also manchmal läuft das parallel, dass man spielt und einem fällt dann ein Satz dazu ein und darauf baut man das auf, aber eigentlich ist die Musik erst da und dann kommt der Text dazu.

Sind die Texte dann stimmungsmäßig von der Musik beeinflusst?

Also das ist schon immer sehr stimmig, glaube ich … (überlegt) Wenn man jetzt zum Beispiel von der ersten Platte „Ausgetrunken“ nimmt, da gibt's ja keinen positiven Text, aber das Lied ist ja schon sehr stimmungsvoll und schmissig und hat diese lustige Melodie (singt "düdelüdelüü" auf die grob passende Melodie) – da passt es ja überhaupt nicht zusammen. Aber das finde ich eigentlich auch sehr spannend, dass es nicht passen muss, und das ist auch etwas, was THE SMITHS eigentlich auch haben – wo es also textlich und musikalisch sehr widersprüchlich ist.

"Ausgetrunken" war auch der Song, den ich im Hinterkopf hatte. Ich habe mich gefragt, ob das bewusst so gemacht ist, dass Ihr Euch da gerade nicht von der Stimmung der Musik verleiten lassen wolltet.

Ich weiß nicht, ob so etwas so bewusst stattfindet. Also ich habe da die Strophe geschrieben und Marcus hat den Chorus dann dazu gemacht, weil ich nicht weitergekommen bin; so was gibt's dann auch, aber das ist die Ausnahme. Aber das war nicht bewusst. Ich glaube, wir haben in uns schon einfach so eine Grundmelancholie, die in den Texten einfach immer drin ist. Wir werden vermutlich nie einen Song machen „Sommer, Palmen, Sonnenschein“ oder so, das sollen DIE ÄRZTE dann tun.

Es kommt ja gerne der Vorwurf, dass Ihr im Unterschied zu früheren BUT ALIVE-Zeiten nicht mehr politisch seid. Ich glaube, Ihr seht das ganz entspannt, oder?

(Ein abwiegelnd-geringschätziges „ach ...“ vorwegschickend:) Wir haben jetzt ja ein bisschen mehr Politik drin, also „Deiche“ ist ein politischer Song. „Einer“ zählt für mich auch dazu. Die erste Platte ist entstanden in einer Phase, in der es einfach für Marcus scheiße lief, für mich lief es scheiße, das Studium war scheiße, die Freundin war weg, das ganze Leben lief irgendwie nicht so, wie man sich das gewünscht hat. Und insofern stand das „Ich“ im Mittelpunkt für einen und dem entsprechend sind die Texte. Jetzt ist es anders und jetzt sind wir glücklicher, haben uns selber unsere Zukunft irgendwie gebastelt, mit dem Label ja auch. Marcus hat sein Studium ja sogar noch zu Ende gemacht, ich brech' meins ab gerade …

… was hast Du studiert?

Geschichte auf Lehramt, ist die Hölle gewesen, ich hab's auch scheinfrei gekriegt, aber ich kann mich da mit dem Pädagogikquatsch … also es geht einfach nicht mehr, ich hab' mir das Falsche ausgesucht damals.

Lief die Band zu der Zeit bei Euch eher nebenher, so nach dem Motto „mal gucken, was man daraus machen kann?“

Schon, also ich mache jetzt ja Musik seit ich 15 bin oder so, und es war halt immer ein Hobby. Das war wie andere Fußball spielen gehen parallel, sonntags ihre Spiele haben und dann hatten wir halt am Wochenende unsere Konzerte. Dann habe ich das Studium angefangen und das andere lief immer nebenbei, hat sich dann aber so verselbstständigt und ist immer mehr in den Mittelpunkt gerückt. Mit dem Label war dann klar, ich kann das Studium nicht weitermachen, die Zeit kann ich nicht mehr aufbringen, und ich habe dann lange mit mir gerungen, was jetzt vernünftig und richtig ist.

Das setzt ja auch voraus, dass man allen beteiligten Leuten vertraut, dass man an einem Strang zieht, schließlich geht es ja dann um eine gemeinsame Zukunft.

Ja, aber das ist ja auf jeden Fall gegeben. Also da herrscht schon Vertrauen, gerade beim Label auch. Thees und Marcus kenne ich schon so lange jetzt und da weiß ich, kann ich mich darauf verlassen. Aber beim Label haben wir auch knallharte Verträge. Wir haben natürlich einen Gesellschaftervertrag, da stehen so Sachen drin, wie „Wenn etwas Neues gesignet wird, müssen das alle drei gemeinsam entscheiden“ und so.

Aber das war trotzdem eine Entscheidung, nach 12 Fachsemestern Studium, wahnsinnig vielen Scheinen, Praktika in Schulen – was für mich auch die absolute Hölle irgendwann war –, und das dann hinzuschmeißen, das ist schon hart gewesen. Weil man sich auch in etwas Unsicheres begibt. Wo ist die Zukunft, wie sieht das aus – das kann einem eben keiner sagen. Aber ich fühle mich … ja, ich habe momentan die beste Zeit meines Lebens. Ich arbeite mit meinen Freunden zusammen, was schon der absolute Wahnsinn ist. Wir haben ein Büro und es ist so spitzenmäßig … Ich hab 'ne Spitzenband, mit der ich unterwegs sein kann und ja, es läuft topp momentan, und was will ich mehr. Also wenn das so weitergeht, dann ist alles gut.

Beim zweiten Album will man ja als Band meist etwas besser machen oder anders. Ihr habt ein wenig experimentiert, beispielsweise mit dem Kinderchor bei „Stockhausen, Bill Gates und ich“ und dem gesamten Nonsense-Text des Songs. Aber ich hatte den Eindruck, dass Ihr Euch letztlich dann doch nicht so richtig getraut habt, in andere Bereiche vorzustoßen, etwas anderes auszuprobieren. Oder wolltet Ihr das vielleicht gar nicht?

Wir haben es einfach immer so gemacht. Wir haben uns nie hingesetzt, oder ich glaube, keiner von uns hat sich hingesetzt und gesagt: „Jetzt müssen wir ein neues Album machen, wie soll das aussehen?“ Wir haben das erste Album fertig gehabt, Marcus und ich waren dann viel mit dem Label zugange; Erik (Gitarrist) hat dann angefangen, Songs zu schreiben und hat dann die ersten Ideen wieder eingebracht, „Bei Nacht“ zum Beispiel, und dann verselbständigt sich das so. Also man sitzt da nicht und denkt: „Wo soll das jetzt hinführen?“

Wir sind auch keine Band, die sich Ziele setzt, sondern wir wollen einfach so weitermachen. Und dadurch, dass auch alle so ein bisschen am Songwriting beteiligt sind und sich das ziemlich lang hinzieht – also die zweieinhalb Jahre, die wir gebraucht haben, die haben wir auch wirklich gebraucht und haben dann nach und nach Songs geschrieben. Und ein Teil davon kommt dann aufs Album und ein Teil nicht.

Aber das war ja eigentlich gar nicht Deine Frage, aber da sind so wahnsinnig viele Sachen … Also das mit dem Kinderchor ist so entstanden, dass wir im Studio saßen und Swen Meier, unser Produzent, sagte: „Also die Gesangsmelodie in der Strophe von „Stockhausen, Bill Gates und ich“ müssten eigentlich Kinder singen, das ist so 'ne Kindermelodie.“ Ja, und dann haben wir am nächsten Tag im Bekanntenkreis angerufen und sieben Kinder rangeholt, zwischen sieben und zwölf so den Dreh, haben Kekse hingestellt und Apfelsaft und dann ging das ab.

Und dann haben wir immer noch die Option gehabt, „ach, wir lassen's weg“, aber wir fanden's dann super. Und der Song selbst ist natürlich … (lacht) Also, als Erik den Text das erste mal gehört hat, meinte er schon: „Ey, das können wir so nicht machen. Marcus, die Leute kleben an Deinen Lippen und alles, was Du machst, ist immer irgendwie bedeutungsvoll und wichtig für die Leute, und jetzt knallst Du denen so 'nen Quatsch um die Ohren“, und es ist ja wirklich Quatsch. Gerade das hat uns dann aber irgendwie motiviert, das durchzuziehen. Wir nehmen uns ja selber auch nicht so ernst und sind gar nicht die ernsten Typen, die grüblerisch sind und …

… zum Lachen in den Keller gehen, wie Ihr es auch selbst besingt …

… ja, genau. Und das fand ich dann total reizvoll. Aber das Geile ist ja wirklich, dass trotzdem der Text auseinander genommen wird und analysiert wird: „Was bedeutet das jetzt …?“ (lacht)

Wie ist das eigentlich für Euch, Ihr schaut ja sicherlich auch mal aus Interesse im Internet in die Foren …

… ja, klar …

… was da für Kommentare und Fragen zu Eurer Musik kommen. Ich denke, manchmal sollte man es einfach dabei belassen, Eure Musik auch als solche, nämlich einfach als Musik mit bedenkenswerten Texten aufzunehmen, und nicht immer alles in klare Formen gießen zu wollen. Wie seht Ihr das?

Wenn ich sage, das ist ein guter Text, dann ist das meistens einer, in dem ich mich auch wieder finden kann und der etwas aussagt oder von Erfahrungen berichtet, die ich auch durchgemacht habe oder nachvollziehen kann. Das ist uns wichtig und darum machen wir es auch so. Und dann ist es eben auch nachvollziehbar, dass die Leute irgendwie anfangen … ja, von Seelenverwandtschaft zu reden. Und das ist natürlich richtig hart dann, da kann ich auch nicht richtig mit umgehen.

Also fühlst Du Dich ungewollt in der Verantwortung?

Ja, ich lehne die ab, die Verantwortung. Wir sind ja auch wirklich nicht diejenigen, die irgendwelche Lebenswege aufzeigen wollen oder den Leuten sagen, wie sie ihr Leben zu führen haben. Ich finde das ganz befremdlich … Ich freue mich, wenn die Leute sagen: „Da kann ich mich drin wieder finden, Du sprichst mir aus der Seele“, das ist für mich total ok. Aber wenn es zu heftig wird, dann distanzieren wir uns auch ganz schnell wieder. Das ist schon eine Gratwanderung – und es ist schwer, damit umzugehen.

Ich denke, genau das habt Ihr auf der DVD ziemlich gut gelöst, wo Marcus im Treppenhaus sitzend quasi nebenbei kurze Einblicke in das Hauptanliegen jedes Songs gibt, das Ganze aber nicht seziert.

Was viele aber zum Beispiel auch scheiße fanden, das geht auch durchs Internet. „Das ist überflüssig“, so in dem Sinne. (lacht)

Wenn man mehrmals in der Woche vor Publikum seine Gedanken mitteilt und sich selbst ein Stück weit sozusagen offen legt, geht da nicht etwas von der Intensität verloren? Begräbt die Routine nicht irgendwann das Gefühl und die Wichtigkeit der Songs bzw. Texte?

Das ist ja nicht so wichtig, das ist ja genau der Punkt. Für uns ist es natürlich auch temporär total wichtig, und meistens sind es ja irgendwelche Gefühle, die man ausdrückt, aus dem Moment heraus. Ich kann ja für Marcus immer schlecht sprechen, aber wenn wir zum Beispiel „Jenseits der Bikinilinie“ nehmen, einen Song, den ich geschrieben habe, als es mir beschissen ging; als ich wirklich da in der Wohnung herumlief und gedacht habe „Scheiße alles“, da ist es mir nahe gegangen. Aber wenn ich so einen Song jetzt zweieinhalb Jahre später spiele, dann habe ich eine Distanz dazu und kann ihn ganz anders interpretieren. Dann wird eine Geschichte erzählt von jemandem, der ich mal war, aber nicht mehr bin. Es ist einfach eine Distanz da und insofern können wir damit ganz gut umgehen ... und müssen auch nicht mehr auf der Bühne weinen, wenn wir die Songs interpretieren …

… war das am Anfang so?

Am Anfang haben wir, glaube ich, alle so das Gefühl gehabt, dass wir einen ernsten Song, einen traurigen Song, wie „Wäre er echt“ zum Beispiel, dass man danach keine lustige Ansage machen kann. Und das haben wir nicht mehr. Wir haben zwar nicht immer eine lustige Ansage danach jetzt, weil uns nicht immer eine einfällt, aber wir wissen, wir können im Grunde genommen zwischen den Songs machen, was wir wollen. Und wir müssen auch nicht mit betroffener Miene die Songs spielen, sondern können dabei Spaß haben, weil wir eben diese Distanz haben.

Und auch das Publikum darf dabei Spaß haben.

Ja klar, auf jeden Fall. Ich bitte darum! (lacht)

Losgelöst von den Texten hat man als Musiker ja auch einen Anspruch an die Musik an sich. Wie sieht der bei Euch aus, da ja immer nur Eure Lyrics aufs Tablett gehoben werden?

Wir wollen natürlich schon tight sein wie Sau und klar auch gute Musik abliefern, und wir machen das auch in dem Maße, wie wir können … bei KETTCAR geht's immer gleich um die Texte, und das ist uns ja auch bewusst. Trotz alledem geben wir uns natürlich total viel Mühe, auch gute Songs zu schreiben und betten die Texte – denke ich – auch ganz gut ein in die Musik. Insofern ist es eigentlich ungerecht, uns nur über die Texte zu definieren, finde ich. Aber wir sind nicht MARS VOLTA oder so, aber wie gesagt – das wollen wir auch gar nicht sein. Wir probieren viel 'rum und schrauben auch viel an Soundsachen und so, aber das geht meistens ein bisschen unter. Aber es ist schon so, dass wir uns viele Gedanken machen über unsere Musik.

Also ich denke nicht, dass es untergeht, ich finde die Songs eigentlich alle sehr schön.

Endlich mal einer! Endlich mal einer, dankeschön! (lacht)

Gibt es ein Rezept für den typischen KETTCAR-Song?

Also am Anfang war das Rezept ja immer, Strophe ein bisschen ruhiger und im Chorus dann ballern (lacht), und hinten im letzten Chorus dann noch 'ne Gitarre und noch ein Keyboard drauf und alle singen. Davon haben wir so ein bisschen Abstand genommen und das tut uns, glaube ich, auch ganz gut. Ich glaube aber nicht, dass es ein Grundrezept gibt … ne, wüsste ich nicht. Ich finde schon, dass die Platte ganz schön unterschiedlich geworden ist, auch die neue. Also mit schnelleren Sachen, mit ruhigeren; manchmal würde ich gerne auch noch ein bisschen mehr knallen … mal gucken, wie das nächste Album wird.

Ein bisschen dicker wäre vielleicht toll, denn man hat manchmal den Eindruck, dass gerade dann, wenn es losgeht, auch schon wieder Schluss ist. Bei „Anders als gedacht“ zum Beispiel, der am Ende ausfadet, in meinen Augen übrigens eine Scheißidee …

Das ist zum Beispiel etwas, also da haben wir uns richtig, richtig Gedanken gemacht. Da ist halt dieses Riff am Ende, das ist so Standard-90er-Jahre-Emo-Core, das ist langweilig für uns. Und darum faden wir's dann weg.

Ein Freund von mir meinte, er hätte das Gefühl gehabt, dazu könne man endlich mal abgehen.

Klar kann man dazu abgehen, aber genau das, weil man es kennt aus 1.000 anderen Songs, die man seit den Neunzigern gehört hat. Und das ist wirklich so ein bisschen DONOTS oder JIMMY EAT WORLD, dieser Emo- oder Rockstandard, und das war uns zu öde. Darum haben wir's dann weggeblendet und da haben wir lange drüber nachgedacht. Wir spielen es live ein bisschen länger (lacht), aber auf Platte ist es eben so kurz.

Ok, aber es ist dann zumindest ebenfalls ein Statement, das auszublenden.

Ja, ist es wirklich. Und ein Indiz dafür, dass wir uns sehr viele Gedanken machen. (lacht)

Eine Frage zu Eurem Label – warum trägt es diesen merkwürdigen Namen „Grand Hotel van Cleef“?

Es gab ja schon das „Hotel van Cleef“, da ist die zweite TOMTE-Platte erschienen, das hatte Thees Uhlmann (Sänger von TOMTE) gegründet. Der Schlagzeuger von TOMTE, Timo Bodenstein, ist Koch. Und der hat damals gesagt: „Wenn wir die Platte machen, dann muss das irgendwas mit Gastronomie zu tun haben.“ So kam das mit dem Hotel zustande. Dann gab es ja noch BA-Records, Marcus' Label, wo BUT ALIVE und WEAKERTHANS erschienen sind, und die beiden – also Marcus und Thees – haben sich dann zusammen getan, ich bin noch dazu gekommen und dann haben wir lange überlegt und das Ganze einfach „Grand Hotel“ genannt. „Van Cleef“, das kommt von Lee van Cleef, diesem Bösewicht aus Wildwest-Filmen, also im Grunde genommen ist das voller Quatsch. Aber so ist die Entstehung. Zum Glück hast Du's aufgenommen und kannst es nachvollziehen, ansonsten könnte ich noch ein Diagramm malen … (lacht)

Ich dachte immer an etwas Französisches, klingt ja ziemlich gewählt und etwas hochgestochen …

So haben wir eigentlich gar nicht gedacht. Wir fanden „Grand Hotel“ ganz gut, weil es auch so etwas Gastliches hat. Und weil wir als Label für die Künstler da sein wollen, sie beherbergen. Und wir bieten eben auch allen Künstlern, die beim Grand Hotel sind, so ein Rundum-Sorglos-Paket. Wenn es also darum geht, dass zum Beispiel MARR fragt: „Wie müssen wir das jetzt machen mit der Band wegen Steuernummer?“, dann kümmern wir uns mit denen darum. Also auch so Kram, den andere Labels vielleicht nicht so machen würden, ich weiß es nicht.

Nach Eurem Durchstart bekommt Ihr mit Sicherheit viele Anfragen von deutschen Bands, die hoffen, endlich über Euer Label eine Chance zu bekommen.

Sehr viele, ja. Wir kriegen schon sehr viele Demotapes und Kassetten und CDs zugeschickt. Ganz lustig war, nach der TOMTE-CD kam wirklich eine Flut an Alt-Rock-Bands, die wahrscheinlich seit 20 Jahren in Proberäumen rumdümpeln und so Deutsch-Rock machen, also vom Schlimmsten auch. Aber wir hören uns das alles an und schreiben dann eigentlich auch immer etwas zurück; bis jetzt ist bei so Demos aber noch nichts dabei gewesen. Alles andere kam über den Freundeskreis, also Olli Schulz kannten wir vorher schon, Mark, Bernd Begemann kannten wir schon ewig lange, also mehr als Musiker als persönlich …

Und die amerikanischen Bands, also MARITIME haben wir ja noch; DEATH CAB FOR CUTIE, die sind über das „Immergut“ zu uns gekommen, die waren auf der Compilation, die wir ja auch einmal im Jahr machen, mit allen Bands, die auf dem Festival spielen. Wir haben da einfach blind eine Mail hingeschickt und angefragt, so kam das zustande.

An dieser Stelle entgleitet das Interview etwas in Richtung persönliches Gespräch. Als allgemein interessant ist jedoch zu vermerken, dass Reimer seine eigene Musik nie hört, außer zu Übungszwecken, alles andere wäre „ganz schrecklich“ bzw. „die Hölle“.

Gibt es ein Detail, das bei Euren Alben noch nie jemand bemerkt hat oder ein Thema, das in einem Interview noch nie angeschnitten wurde, und über das Du eigentlich gerne mal geredet hättest?

So spontan nicht, also dass ich sagen würde: „Dass da nicht mal einer drauf kommt?!“ Ich bin froh, dass Du nicht über diesen ganzen Deutsch-Pop-Quatsch Fragen gestellt hast, denn damit werden wir geradezu bombardiert.

Also JULI und so …

Genau, so was und SILBERMOND und blablabla …

Mit denen habt Ihr ja eigentlich auch gar nichts zu tun, bis auf das Pech, zur gleichen Zeit mit deutschen Texten erfolgreich Musik zu machen.

Eben. (lacht) Aber es knallt bei uns ja momentan schon ganz schön und jetzt kommen einfach Anfragen. Gestern hat noch einer von der Bravo angerufen …

… macht Ihr so was dann mit? So mit Hausbesuch und solchen Geschichten?

Nein. Auch "Top Of The Pops", so was machen wir nicht, ganz klar. Das alles ist natürlich total grotesk, denn das sind ja auch die Leute, die davon überhaupt keine Ahnung haben und sich damit überhaupt nicht beschäftigen. Dann gleich so: „Juli, Silbermond – und dann ist da noch ne neue Band, und das ist Kettcar!" Dass es aber das zweite Album ist und es uns seit 2001 gibt, als es den ganzen Scheiß noch nicht gab, das wird halt total übersehen.

Wir hatten auf SAT1 „Nacht“ irgend so einen Bericht mit Interview, und das war auch total ok, da habe ich meinen Senf abgegeben. Die haben auch gefragt, wie wir uns denn sehen, so mit JULI und SILBERMOND – ich habe das dann auch alles erklärt. Und dann sehe ich diesen Bericht nachher: Der fängt an mit Videoausschnitten von JULI und dann kommt was von SILBERMOND und dann kommen wir. Und aus dem Interview haben die nichts genommen, nichts gesendet.

Und das ist so befremdlich, weil wir damit auch erstmal gar nicht umgehen können. Da kommen dann so Medien, die kennen wir gar nicht. Wir haben jetzt auch so einen Bericht in den "Tagesthemen" gehabt, einen ganz kurzen; da ruft dann der NDR bei uns an und Du denkst auch nur „Tagesthemen, das kann doch nicht sein“, und die drehen mit uns vier Stunden, wobei dann so ein Zwei-Minuten-Bericht herauskommt, was wohl auch normal ist …

Die Aufmerksamkeit ist für uns natürlich toll, also es ist nicht so, dass wir uns dann sperren bei solchen Sachen, aber bei einigen bereut man das dann schon. Diese ganzen deutschsprachigen Sampler, die jetzt 'rausgekommen sind, das ist ja auch eine wahnsinnige Flut gewesen, da sind wir auf den ersten vier auch mit drauf. Bis wir dann endlich erkannt haben für uns: „Was passiert da gerade? Was ist das für'n Scheiß, was soll das überhaupt?“ Das braucht kein Mensch. Und ich ärgere mich jetzt im Nachhinein noch, dass wir auf den ersten vieren überhaupt drauf sind, weißt Du? „Junge Helden“ heißt der eine. Was ist denn das für'n Scheiß?

Am Anfang nimmt man wohl mit, was kommt …

Ja, klar. Wir gucken eigentlich schon genau, und wenn so Anfragen für Compilations kommen, guckt man erstmal, welche Bands sind da mit drauf. Und bei dem ersten waren TOCOTRONIC drauf, DIE STERNE und so, und dann haben wir gesagt: „Na klar, machen wir auch, kein Ding.“ Das sind Bands, die wir mögen und da fühlen wir uns in guter Gesellschaft. Dann kam irgendjemand mit ROSENSTOLZ, da haben wir gesagt: „Ne, machen wir nicht.“ Ja, und so ging das halt. Aber eigentlich ist das der größte Quatsch gewesen.

Man muss sich immer noch mehr Gedanken machen, aber das ist teilweise echt schwierig, weil man's einfach nicht weiß. Wie gesagt, in so vielen Sachen stecken wir dann auch gar nicht drin, weißt Du. Da schreibt mir dann irgendeine von RTL „Exklusiv - Das Starmagazin“, wie toll sie die CD findet und: „Wir machen bestimmt auch noch mal was über Euch.“ Wir sehen uns da überhaupt nicht. Und da hab' ich zurück geschrieben: „Muss gar nicht“ … (lacht)

Chris

Als Kind der 90er liebe ich Grunge und Alternative Rock – meine bevorzugten Genres sind aber Death, Groove, Dark und Thrash Metal. Ich kann Musik und Künstler schwer voneinander trennen und halte Szene-Polizisten für das Letzte, was Musik braucht. Cool, dass Du vorbeischaust!