Geschrieben von Sonntag, 02 Januar 2005 20:29

Dark Tranquillity - Interview mit Gitarrist Niklas Sundin zum Album 'Character'



Niklas Sundin von den schwedischen Melodic-Deathern Dark Tranquillity ist ein netter ruhiger Kerl, der einen mit seiner überlegt-spontanen Art auch am Telefonhörer spüren lässt, dass seine Band zum absolut Wichtigsten in seinem Leben zählt. Trotz eines stressigen Zeitplans beantwortete der Gitarrist BurnYourEars drei Tage vor Weihnachten alle Fragen zum kommenden Album; ausführlich und ohne seinen Stolz auf "Character" zu verhehlen.

Als erstes muss ich sagen, dass ich „Character“ für das bis dato beste Album von Dark Tranquillity halte …
… oh, danke …

… ich denke, es ist mehr Dark Tranquillity in jeder Hinsicht und summiert die Stärken der Band, die sich im Laufe der letzten Jahre herausgebildet haben. Siehst Du das ähnlich?
Ich denke schon, dass es das trifft. Wir haben hart daran gearbeitet, alles nach einem kompletten Album klingen zu lassen und nicht nur wie eine bloße Ansammlung von Songs. Wir haben versucht, alles einheitlich klingen zu lassen in dem Sinne, dass es keine wirklichen Höhepunkte gibt und keine offensichtlichen Hit- oder Lieblingssongs. Es sollte einfach eine Sammlung guter Songs werden mit einer gewissen Gemeinsamkeit oder einem roten Faden, der sie verbindet. Die Grundidee war, dort weiterzumachen, wo „Damage Done“ aufhörte und alles aufs nächst höhere Level zu bringen. – Intensiver, schneller und härter sowie technischer und komplexer. „Damage Done“ war vielleicht zu freundlich für die Ohren, zu catchy und man konnte sich zu leicht mit den Songs anfreunden. „Character“ sollte nicht so einfach zugänglich sein, man sollte es oft hören können, bevor sich einem die verschiedenen Details und Abläufe erschließen.

Genau diesen Eindruck hatte ich auch. „Character“ ist komplex genug, um „komplex“ genannt zu werden, dies jedoch auf eine Art und Weise, die letztlich zugänglich bleibt und nicht anstrengend wird. Härter und schneller, ohne klare Gesangparts (Niklas lacht zustimmend) und insgesamt irgendwie experimenteller. War dieser Sound von Anfang an beabsichtigt oder hat sich das erst während des Entstehungsprozesses entwickelt?
Es war ein ziemlich natürlicher Prozess. Wir arbeiten so, dass wir zuerst einzeln unsere verschiedenen Riffs und Grundideen sammeln und dann alles im Proberaum experimentell zusammentragen. – Um auszuprobieren, was zusammen funktioniert oder auch nicht, um verschiedene Ideen zu prüfen und die unterschiedlichen Ideen in Songs umzuwandeln. Ich glaube, wir hatten nie eine grundlegende Diskussion bezüglich einer bestimmten Richtung für das Album, wir haben uns nie zusammengesetzt und beschlossen „Lasst uns schneller werden“ oder was auch immer … Es kam ganz von selbst nach etwa zwei Songs, bei denen wir uns auf einen Grundriss geeinigt hatten und aus irgendeinem Grunde – ich weiß nicht genau, warum - fühlte es sich relevant und wichtig an, schneller und intensiver zu werden.

Wie viel Zeit habt Ihr mit dem Songwriting im Proberaum verbracht?
Es hat ungefähr ein Jahr gedauert. Wir haben damit angefangen, nachdem wir von der zweiten Damage-Done-Tour durch Amerika zurückgekommen sind. Wir hatten einige sehr grobe Ideen und es folgte etwa ein Jahr konzentriertes Songwriting, bevor wir ins Studio gingen, um das Ganze aufzunehmen.

Euer „Exposures“-Album bildete als Sammlung rarer und bis dato unveröffentlichter Aufnahmen den letzten Einblick in Euer Schaffen. War dieses Album so etwas wie ein Wendepunkt, mit dem Ihr Eure Vergangenheit abschließen konntet, um mit „Character“ „unbelastet“ und frisch durchzustarten?
„Character“ wurde ja sogar aufgenommen, bevor „Exposures“ herauskam. Es gab eine ganze Menge Gründe, dieses Album zu veröffentlichen. In erster Linie waren es eine Menge Leute, die uns fragten, wo sie das alte Demomaterial bekommen konnten. Viele wußten, dass wir eine ganze Menge unveröffentlichtes Songmaterial hatten, so dass wir dachten, es wäre ein nettes Geschenk, alles zusammenzupacken und rauszubringen und somit gleichzeitig ein Kapitel abzuschließen und die Bahn freizuräumen für was auch immer. Dazu kam, dass wir unser 15jähriges Bestehen feierten und gerne ein Dankeschön für die Fans beisteuern wollten.

Du sagtest, die Songs zu „Character“ seien vor dem „Exposures“-Release aufgenommen worden. Meines Wissens waren sie bereits im März 2004 fertig gestellt. Wie kam es zu dieser ungewöhnlich langen Wartezeit bis zur bevorstehenden Veröffentlichung rund zehn Monate später?
„Damage Done“ war ja das letzte Album im Rahmen des alten Century-Media-Vertrags und wir waren immer extrem zufrieden mit der Plattenfirma und ihrer Arbeit. Wir hatten somit eigentlich nicht vor, das Label zu wechseln, doch auf der anderen Seite wären wir dumm gewesen, wenn wir uns nicht zumindest ein wenig umgesehen hätten, was andere Labels uns zu bieten haben. Das war ein sehr langwieriger Prozess, während dem unser Management eine Menge Angebote zu prüfen hatte und jede Menge Arbeit bekam. Das alles dauerte etwa sieben Monate und am Ende waren wir sehr glücklich, wieder bei Century Media zu unterschreiben; das war im Juli oder August. Zu dem Zeitpunkt war der Veröffentlichungsplan von Century Media für den Herbst aber bereits komplett gefüllt, sodass wir nun bis Januar warten müssen, bis das Album erscheint.

Haben Century Media Euch von Beginn an angeboten, den Vertrag zu verlängern oder Euch einen neuen zu geben?
Ja, wir bekamen ein Angebot und haben daneben auch viele weitere bekommen. Wir haben unserem Manager diesen ganzen Geschäftskram überlassen, da wir davon absolut nichts verstehen.

Das Album trägt den einfachen Titel „Character“. – Warum?
Nach einer Weile fanden wir heraus, dass sich die überwiegende Anzahl der Texte auf dem Album mit verschiedenen Verhaltensweisen beschäftigt, mit verschiedenen Reaktionen in unterschiedlichen Situationen. Die zeigt gleichzeitig verschiedene Seiten eines Charakters, eines Gemüts oder einer Person oder was auch immer. Von daher kamen wir darauf, das Album „Character“ zu nennen, zumal alle Songs unterschiedliche Gesichter oder Ansichten haben. Es ist kein Konzeptalbum aber es gibt einen roten Faden, der die Songs thematisch verbindet. Man kann die Texte vielleicht mit denen auf „Projector“ vergleichen, in dem Sinne, dass sie selbstanalytisch und ichbezogen sind.

Somit hat „Character“ mehr Bezug zu den Texten als zu der Musik? Für mich klingt auch die Musik charakteristischer als vormals.
Ja, das war ebenfalls ein Grund für den Titel. Du kannst die Musik ebenfalls aus zwei Richtungen betrachten oder sogar die Band selbst. Wir sind schon lange Zeit unterwegs und haben immer versucht, unseren eigenen Vorstellungen zu folgen, ohne wirklich darauf zu achten, was unsere Umgebung erwartet. Wenn man das von Album zu Album durchhält, zeigt auch das Charakter.

Du hast einmal mehr das Cover-Artwork gestaltet. Für mich sieht es aus wie ein Zug, der durch eine Art Zukunftswelt rast …
Es kann sein, was immer Du willst, manche halten es für ein Raumschiff oder auch irgendetwas anderes, das sich irgendwie bewegt oder fährt. Es soll in erster Linie eine Atmosphäre kreieren, es besteht eine Art symbolische Verbindung zwischen dem roten Objekt und der grauen, farblosen Stadt. Das Ganze hat eine gewisse Struktur … also die Grundidee war, dieses ganze Character-Thema irgendwie auch abzubilden in einer Art großen Stadtlandschaft mit unterschiedlichen Gebäuden und organischem Zeug wie menschlichen Händen, also einer Kombination aus Technik und organisch Menschlichem. Man sieht diese Muskelfasern in dem roten Objekt, das Gehirn und all diese Elemente, die jedoch nicht zu viel erzählen oder aussagen, sodass man sich seine eigenen Gedanken dazu machen kann.

Ihr habt dieses Jahr viele Festivals und Shows gespielt, sodass die Leute vielleicht schon vorab einige der neuen Songs hören konnten. Wie waren die Reaktionen? Gab es darüber hinaus schon Feedback zum Album?
Ja, wir haben schon Reaktionen im Internet bekommen, zumal das Album etwa vor einem Monat verschickt wurde (zu Promozwecken). Alles war extrem positiv, fast jeder scheint beeindruckt und enthusiastisch zu sein. Das gleiche gilt auch für die Live-Previous, wir haben auf einigen Festivals „One Thought“ und „Through Smudged Lenses“ gespielt und alle waren sehr aufmerksam und ziemlich begeistert.

Die bereits veröffentlichte Single „Lost To Apathy“ ist die erste Single in Eurer gesamten Bandgeschichte. Wie kommt es, dass Ihr erst im Zuge von „Character“ einen Song vorab veröffentlicht habt?
Der Grund war die lange Wartezeit bis zur Veröffentlichung des Albums; wir dachten uns, eine EP würde schon einige Monate früher machbar sein, wir wollten auf diesem Wege schon mal ein wenig neues Material vorstellen.

Die Idee war scheinbar sehr gut, zumal die Single in die schwedischen Charts eingestiegen ist, ich weiß gerade nicht die Position …
… 47 glaube ich, und natürlich war es eine tolle Promotion. Dadurch wurde das Video gespielt, was wiederum die Single gefördert hat. Das macht es für uns leichter, in Schweden Gigs und Festivalshows zu bekommen.

Ich hatte vermutet, dass Ihr auch in Schweden einen großen Namen habt?
Kommt darauf an… Vermutlich sind wir eine der bestverkaufenden Metalbands aber auf den Gesamtbereich gesehen sind wir immer noch eine kleine, unbekannte Band. Wir sind ziemlich klein in Schweden außerhalb der Metalszene.

Warum habt Ihr gerade „Lost To Apathy“ als Single ausgewählt, zumal dieser Song nicht besser oder schlechter zu sein scheint als der Rest?
Alle sechs Bandmitglieder hatten völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, welcher Song als Single verwendet werden sollte, sodass wir die Entscheidung Century Media überlassen haben. Wir konnten einfach keine Entscheidung treffen. Der Songs ist vielleicht der melodischste und eingängigste des Albums.

Gab es noch weitere Songs, die es nicht aufs Album geschafft haben?
Nein, wir hatten nur die Titel, die auch auf dem Album sind.

Das ist erstaunlich und recht ungewöhnlich, zumal Bands während des Aufnahmeprozesses ja meistens einige schwächere oder für das Konzept unpassende Songs zurückstellen. Somit fügte sich von Anfang an also alles perfekt ein und ergab diese Einheit anstatt einer bloßen Ansammlung von Songs, wie Du vorhin sagtest?
Ja, mehr oder weniger war es so. Wir entschieden uns einfach, ins Studio zu gehen, als wir genug Songs hatten. In der Vergangenheit, bei „Haven“ oder „Projector“ beispielsweise, haben wir stets zwei oder drei Songs mehr aufgenommen, als wir für das Album benötigten. Auch um einiges Extramaterial für Japan-Releases zu haben, doch dieses Mal benutzten wir alles, was wir hatten.

Du spielst seit über fünfzehn Jahren in dieser Band. Gibt es da keinen Druck, von Album zu Album immer bessere Riffs mitzubringen, stets die vorangegangene Leistung zu toppen?
Darüber denken wir eigentlich nicht viel nach. Es ist wichtig, Dich selbst zufrieden zu stellen, und wir spielen, solange wir etwas daraus machen können. Wenn man beginnt, sich über die Erwartungen der Leute Gedanken zu machen und neue Songs mit dem zu vergleichen, was man vor zehn Jahren gemacht hat, dann kann das die ganze Sache zerstören. Wir reflektieren also nicht viel über Erwartungen und versuchen einfach, unser Bestes zu geben und sehr hart zu arbeiten, um am Ende hoffentlich damit glücklich zu sein.

Was denkst Du über die musikalischen Entwicklungen, den schwedischen (Gitarren-) Sound mit Hardcore zu kombinieren?
Ich habe mir diese Bands noch nie richtig angehört, aber es ist natürlich sehr schmeichelhaft für jede Band, wenn jemand musikalisch durch sie beeinflusst oder wirklich inspiriert wird. Daher ist das natürlich eine gute Sache. Einige dieser Bands werden wirklich groß in Amerika, aber ich habe keine wirkliche Meinung zur Musik, dafür muss ich sie erst ein wenig öfter hören.

Eine letzte Frage, passend zur Jahreszeit: Wie verbringt Ihr Weihnachten und Sylvester?
Wir werden von dieser Promo-Tour einen Tag vor Weihnachten zurückkehren, nachdem wir elf Tage unterwegs waren und an jedem von ihnen etwa 20 Interviews hatten (… wow …) … ja, das ist schon recht anstrengend, jeder ist erkältet usw., sodass wir die Tage einfach mit unseren Familien verbringen und nichts anderes tun werden, als zu relaxen.

Und dann folgt ja auch schon die Tour mit Kreator und Ektomorf.
Ja, ich denke, wir werden dann irgendwann zu Beginn des nächsten Jahres wieder mit dem Proben anfangen.

Dann hoffentlich bis im nächsten Jahr auf bzw. vor irgendeiner Bühne und vielen Dank für das Interview!
Yeah, vielen Dank!

Chris

Als Kind der 90er liebe ich Grunge und Alternative Rock – meine bevorzugten Genres sind aber Death, Groove, Dark und Thrash Metal. Ich kann Musik und Künstler schwer voneinander trennen und halte Szene-Polizisten für das Letzte, was Musik braucht. Cool, dass Du vorbeischaust!