Euer neues Album "Unsung Prophets and Dead Messiahs", das im Januar erscheint, ist ein Konzeptalbum, in dem Ihr Euch mit dem Philosophen Plato befasst. Wie seid Ihr auf diese Idee gekommen?
Ich habe nach einem Konzept gesucht, das stark genug ist, die aktuelle Situation auf der Welt widerzuspiegeln und bin dann bei Platon gelandet, der schon vor über 2500 Jahren sein bekanntes "Höhlengleichnis" verfasst hat. (Was es damit auf sich hat, erklärt Kobi weiter unten. – Anm.d.Red.) Es war einfach faszinierend zu sehen, dass all diese Dinge, die er schon vor so langer Zeit über die Menschheit gesagt hat, bis zum heutigen Tage nichts an Relevanz verloren haben. Und schon zu Zeiten der alten Griechen war es so, dass jemand, wenn er große Ideen hatte, zum Tode verurteilt wurde.
Dieses Verhalten hat sich im Laufe der Zeit leider nicht geändert: Jedes Mal, wenn jemand eine Vision hat und etwas Revolutionieren will, entschließen wir als Menschheit uns dazu, ihn zu töten. Egal, ob er Jesus Christus, Che Guevara, Martin Luther King oder Mahatma Gandhi heißt. Es gibt so viele Beispiele großartiger Menschen, die aufgrund ihrer revolutionären Ideen hingerichtet oder schlichtweg ermordet werden – und das seit über 2500 Jahren schon.
Unser größtes Problem, das wir als Menschen haben, ist, dass wir immer denken, dass alle anderen das Problem sind: Die Welt wäre besser ohne Religion, die Welt wäre besser ohne Politik ... und so weiter. Aber in Wirklichkeit ist es so, wie Albert Einsteins schon sagte: "Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen." Und das sind wir, das sind wir alle, und genau deswegen haben wir dieses Konzept für unser Album gewählt, als Appell an die Menschlichkeit, nicht wegzusehen, wenn schlimme Dinge in der Welt passieren.
War das auch der Grund, warum Ihr euch für diesen eher düsteren Titel entschieden habt?
Ja genau, die "Dead Messiahs" aus dem Titel sind genau die schon genannten Che Guevaras, Gandhis und Martin Luther Kings dieser Welt – starke Persönlichkeiten, die sich den grausamen Führern dieser Welt in den Weg stellen und dafür sterben. Die "Unsung Prophets" sind all die Propheten unserer Zeit, die von uns als solche nicht wahrgenommen und erkannt werden, weil wir davon ausgehen, dass in der heutigen Zeit keine Prophezeiungen in dem Sinne mehr existieren, aber das stimmt nicht.
Nimm zum Beispiel Aldous Huxley, den Autor von "Brave New World". Für uns ist er nur ein Schriftsteller, aber auch er war im Endeffekt ein Prophet – viele Dinge, die er schon 1932 in seinem Buch geschrieben hat, sind heute zur Wirklichkeit geworden. Es war also eine Art Prophezeihung. Gleiches gilt für George Orwells "1984". Es heißt immer, dass es keine Prophezeiungen mehr gibt, aber im Endeffekt kann sich selbst eine Sci-Fi-Serie wie "Black Mirror" als solche herausstellen.
Ich glaube, dass das Problem darin liegt, dass Menschen sich, wenn sie das Wort "Prophezeiung" hören, oft nur auf den religiösen Aspekt fokussieren.
Ja, das stimmt – und genau das ist eben nicht so, es gibt überall und zu jeder Zeit auf der Welt "Propheten" – Philosophen, Autoren und eben auch die schon genannten Personen wie Gandhi und Martin Luther King und eben nicht nur Jesus Christus. Für uns sind das einfach geistige Führer, die eben hingerichtet worden sind, aber genau das ist doch das gleiche Muster wie schon vor 2000 Jahren bei Jesus Christus, genau das gleiche …
Die erste Auskopplung aus Eurem Album "Like Orpheus" basiert auf einer wahren Geschichte. Kannst Du mir hierzu ein bisschen mehr erzählen?
Genau, also das Video basiert auf einer wahren Begebenheit: es erzählt die Geschichte von Metalheads im Mittleren Osten – da sind dieses Mädchen und dieser Junge und beide leben tagsüber ihr normales religiös geprägtes Leben, aber es sind beides auch Metalheads, die die gleiche Musik hören und auf die Konzerte der gleichen Bands gehen – fast schon eine Art Doppelleben.
Das Video spiegelt eigentlich unsere ganz grundsätzliche ORPHANED LAND-Botschaft wider: Er ist orthodoxer Jude, sie ist eine orthodoxe Muslimin und am Ende sitzen sie beide nebeneinander an der Bushaltestelle und haben beide keinen blassen Schimmer, dass sie sich eigentlich so unglaublich ähnlich sind. Er denkt, sie ist halt ein normales muslimisches Mädchen und sie denkt, er ist eben ein ganz normaler jüdischer Typ. Beide sind streng gläubig und kommen gar nicht auf die Idee, dass der andere am Vorabend noch auf dem gleichen KREATOR-Konzert war, wie man selbst auch.
Wir sehen nur unsere kulturellen Stereotypen und unsere traditionelle Kleidung und das ist alles, wonach wir einen anderen Menschen vorrangig beurteilen – wir sehen alles nur aus einem Blickwinkel, genau wie schon von Platon im "Höhlengleichnis" beschrieben.
Kannst Du vielleicht kurz erzählen, worum es in dem Gleichnis genau geht? Ich muss gestehen, dass ich mit der Handlung nicht im Detail vertraut bin …
Natürlich – die Grundidee ist, dass alle Menschen in einer Höhle geboren werden und in dieser Höhle alle mit Blick zur Wand stehen. Hinter ihnen brennt ein Feuer, so dass alles, was sie sehen, die Schatten an eben jener Wand sind. Und weil sie nur diesen Blickwinkel kennen, halten sie diese Schatten eben für die einzige Wahrheit. Sie wurden in der Höhle geboren und kennen nichts anderes, also entsprechen die Schatten, die sie sehen, der Wahrheit.
Doch eines Tages schafft es ein Mensch, auszubrechen, die Höhle zu verlassen und die richtige Welt draußen zu sehen. Er sieht den blauen Himmel und all die anderen Dinge, die er sonst nur als Silhouette wahrgenommen hat. Und genau das ist die Geschichte, die wir in "Like Orpheus" erzählen: Orpheus sieht die Wahrheit und fängt an, Lieder darüber zu singen (in der griechischen Mythologie war Orpheus ein begnadeter Sänger). Und er kehrt in die Höhle zurück, um den anderen von seiner Entdeckung zu erzählen ... und was passiert? Er wird von ihnen getötet … und das ist genau das, was eben auch heute noch passiert.
Ich hatte das Vergnügen, schon im Vorfeld in Euer Album hineinzuhören – wie würdest Du eure musikalische und textliche Entwicklung beschreiben?
Ich denke, wir befinden uns in einer permanenten Entwicklungsphase. Wir versuchen, uns nicht zu wiederholen, sondern als Band offen zu bleiben, neue Dinge zu entdecken und uns stetig zu steigern. Ich glaube zum Beispiel, dass ich mich auch gesanglich deutlich weiterentwickelt habe – ich singe auf diesem Album teils deutlich höher, als in der Vergangenheit, aber habe gleichzeitig die tiefen Growls beibehalten. Und das spiegelt sich in allen Bereichen wider, ohne dass wir den Grundgedanken der Band verloren haben.
ORPHANED LAND war schon immer eine sehr vielseitige Band – man kann unser Repertoire nehmen und problemlos drei stilistisch vollkommen verschiedene Setlists bauen: eine wird fast nur aus Growls bestehen, die nächste quasi nur aus Balladen und die dritte ist eine Sammlung von Metalversionen traditioneller jüdischer Songs. Von sanft und melodisch bis zu wirklich aggressivem und hartem Metal ist in unserer Musik alles dabei. Und ich habe das Gefühl, dass wir aktuell so stark sind, wie noch nie zuvor.
Für mich ist "Unsung Prophets and Dead Messiahs" unser bisher bestes Album und basierend auf den Rückmeldungen, die ich bisher bekommen habe, würde ich sagen, dass mir die meisten Fans dabei zustimmen. Natürlich gibt es immer Oldschool-Fans, die das alte Material bevorzugen und das ist natürlich ihr gutes Recht, aber wir als Band fühlen uns so gut wie nie – und ja, das ist ein großartiges Gefühl.
Mein Eindruck beim Hören war, dass, egal welchen Bereich man betrachtet, es von allem ein bisschen "mehr" ist: epischere Arrangements, härtere Riffs, ausgefeiltere Melodien – und das alles als Konzeptalbum, das in seiner Gesamtheit immer noch am besten funktioniert. Denkst Du, dass es eine größere Herausforderung sein wird, dieses Album live zu performen? Wie fühlt Ihr Euch generell im Hinblick auf die bevorstehende Tour?
Unsere Arrangements sind schon immer so komplex gewesen, dass wir keine andere Wahl haben, als auf der Bühne auf Playback zurückzugreifen. Aber das geht den meisten anderen Bands nicht anders. NIGHTWISH brauchen immer Playback, so wie fast alle anderen Bands auch – einfach weil es nicht möglich ist, mal eben einen Chor von 25 Leuten und noch diverse Musiker an der Violine und anderen Instrumenten mit auf die Bühne zu bringen.
Am Ende bleiben einfach die Band und Playback übrig, aber das hat in der Vergangenheit immer gut funktioniert und das wird es auch dieses Mal. Natürlich wäre es traumhaft, mit 20 oder mehr Leuten auf der Bühne zu stehen, aber das ist leider einfach nicht möglich.
ORPHANED LAND hatten immer schon einen gewissen Pionier-Status, zum Beispiel als erste israelische Band, die in der Türkei und anderen arabischen Ländern live aufgetreten ist. Welche Tour-Momente haben sich bei Dir besonders eingeprägt?
Es gibt so viele fantastische Konzerterinnerungen. Wir haben zum Beispiel 2016 in Wacken gespielt und direkt vor mir standen Fans mit einer israelischen Flagge, direkt neben anderen Fans, die eine libanesische Flagge geschwenkt haben – und Israel und der Libanon sind eigentlich verfeindet, aber diese Fans stehen gemeinsam direkt vor mir und ich meine ... das Areal in Wacken ist riesig, es wäre kein Problem gewesen, dass die einen sich auf die rechte und die anderen auf die linke Seite stellen, um so viel Abstand wie möglich voneinander zu halten. Aber stattdessen entscheiden sie sich dafür, gemeinsam vor der Bühne zu stehen, und so etwas ist für mich einfach ein unbeschreiblicher Moment: zu sehen, wie Metalheads koexistieren und ein gemeinsames Zeichen setzen, besser als es all die Politiker dieser Welt je könnten. Und es gibt so viele vergleichbare Storys, die ich erzählen könnte.
Weißt Du, wir haben Shows in der Türkei und anderen arabischen Ländern gespielt und muslimische und arabische Fans waren auch bei unseren Konzerten in Israel – und in dem Moment versteht man einfach, dass da jemand ist, der uns versucht, hereinzulegen und uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Irgendjemand will nicht, dass wir miteinander klarkommen. Damit lässt sich kein Geld verdienen.
Die meisten Menschen realisieren leider nicht, wie sie von der Politik und den Medien vorgeführt werden – und es sind genau diese Momente, in denen ich so viel lerne, mehr als von jedem Mentor, den ich in meinem Leben je gehabt habe. ORPHANED LAND ist mein größter Mentor und all diese Shows bleiben für immer in meiner Erinnerung.
Im Moment touren wir viel durch Europa, so dass auch viele Flüchtlinge auf unsere Konzerte kommen. Diese Menschen erzählen uns davon, wie sie ihr Zuhause verloren haben, wie ihr Land zerstört wurde – und ironischerweise können sie sich dadurch, dass sie nach Europa geflohen sind, zumindest diesen winzig kleinen Traum erfüllen, zu einem unserer Konzerte zu kommen. Und man sieht diesen Funken Licht und Hoffnung in ihren Augen. Das sind Momente, die man nicht vergisst.
Man darf leider auch die andere Seite der Medaille nicht vergessen: ORPHANED LAND waren schon immer ein kontrovers diskutierte Band, die z.B. Zeilen aus dem Koran gesungen hat. Hattest Du jemals Angst davor, auf die Bühne zu gehen? Ein Idiot reicht …
Dieser Gedanke ist natürlich immer da und wir haben mehr als eine Terrordrohung bekommen, aber … Menschen reden und es sind nur Drohungen, die nicht zwangsläufig ernst gemeint sind. Und selbst, wenn sie es sind und selbst, wenn da dieser eine Idiot draußen herumläuft – man kann sich nie zu 100 Prozent schützen. Das einzige, was man machen kann, ist, sich Zuhause einzuschließen und Angst zu haben – und das wollen wir einfach nicht.
Wenn etwas passiert, während wir unsere Songs spielen, dann ... ich weiß nicht ... haben wir zumindest das getan, was wir für richtig gehalten haben. Man kann diese Idioten nicht davon abhalten, alles zu zerstören, wie auch bei den ganzen schon genannten Personen, die ermordet worden sind. Also ja, der Gedanke schwirrt immer irgendwo in unseren Köpfen herum, aber wir versuchen, ihm nicht zu viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und uns dadurch von dem abhalten zu lassen, was wir tun wollen.
Und damit seid ihr extrem erfolgreich – sogar bis zu dem Punkt, dass es seit 2012 quasi jährlich eine Petition gibt, Euch als Band für den Friedensnobelpreis zu nominieren. Was denkst Du darüber?
Es ist natürlich extrem schmeichelhaft, zu sehen, dass deine Fans dich so sehr schätzen und Fans auf der ganzen Welt – teilweise aus Ländern, in denen ich bzw. mein Heimatland als Feind angesehen werden – eine solche Petition unterschreiben. Es schmeichelt uns, aber gleichzeitig ist es uns irgendwie auch peinlich, schließlich sind wir nur Musiker, keine Politiker. Wir schreiben einfach Songs und träumen von einer besseren Welt für alle Menschen, die in ihr leben. Aber ja, es ist ein schönes Gefühl zu sehen, wie sehr uns unsere Fans schätzen. Das allein ist schon wie ein Preis für sich und wir sind sehr dankbar dafür.
Ich habe auf Reddit eine interessante Fragestellung gesehen, auf die ich gern deine Antwort wüsste: Stell Dir vor, die gesamte Welt steht für eine Minute still und alle Menschen hören Dir zu – was würdest Du sagen?
Ich würde zwei Fragen stellen. Zuerst würde ich fragen: "Wisst ihr, dass in Indien jedes Jahr 70.000 Kinder entführt werden?", worauf die Antwort der meisten Leute vermutlich ein "Nein" wäre. Und als zweites würde ich fragen, ob sie Kim Kardashian kennen, wo die Antwort vermutlich "Ja" lautet – und dann würde ich sie einfach nach Hause schicken, um genau darüber nachzudenken.
Ok, ich sehe, worauf Du hinaus willst.
Ich möchte der Welt einfach einen Spiegel vorhalten, um den Menschen zu zeigen, wie sehr sie durch die Medien und Politik beeinflusst werden, wie fast jeder Politiker sein eigenes Interesse vor das der Menschheit stellt – und die einzige Lösung für diese Problem ist Bildung und Aufklärung, weltweit.
Gibt es noch etwas, was Du unseren Lesern auf den Weg mitgeben möchtest?
Nur eine Sache: Hört in unser Album, guckt euch unsere Tourdaten an und besucht unsere Shows, selbst wenn ihr mit der Message und unserer Philosophie nichts anfangen könnt. Die Musik spricht für sich selbst und wir hoffen und freuen uns darauf, viele von Euch in den nächsten Wochen unterwegs zu treffen.