Cam Cole konnte ich schon einmal unverhofft im letzten Jahr am Piccadilly Circus in London sehen. Nach nur einigen Takten sammelten sich Menschentrauben aus Touristen und Einheimischen, Hippies und Anzugträgern. Sie alle wurden von den fetten Sounds und der unglaublichen musikalischen Energie angezogen und zum geradezu magnetischen Verweilen eingeladen.
Der Singer/Songwriter sieht ein wenig aus, als wäre er aus einem "Fluch der Karibik"-Film entsprungen: Schlabbrige Klamotten, Dreads, Bandana, Boots. Auf der ausgeprägten linken Nasenseite ein individuelles Tribal-Tattoo. Bei genauem Hinsehen erkennt man feine Gesichtszüge. Ebenso fein ist in einigen Songs seine Stimme. Fein, fast filigran. Es gehört mit zu Cam Cole, einen maßlos übersteuerten Hall auf der Stimme zu haben, das passt aber zum Gesamtkonzept. Die Songs sind treibend, meist auf Blues, Rock und härteren Klängen basierend – ein Erlebnis.
Cam Cole, schön, dass du für uns Zeit hast – Du triffst den Nerv der Zeit aus Verrücktheit, Echtheit und Ekstase. Ein Rollstuhl wird von den Menschen, die darin sitzen, oft als ein Teil ihres Körpers empfunden. Ist dein einmaliges One-Man-Band-Drum-Mic-Amp-Guitar-Gebilde nur ein Werkzeug oder ein Teil von dir und wie war der Prozess, bis es entwickelt war?
Angefangen habe ich mit einigen Bandprojekten, aber es war immer das Gefühl da, dass ich mehr gegeben als bekommen habe, da ich die treibende Kraft in den Projekten war und Songs und Energie einbrachte. Etwas überspitzt dargestellt war der Weg zur One-Man-Band vorgezeichnet, denn ich musste mich nicht mehr mit anderen Leuten abstimmen.
Als Straßenmusiker kam noch ein handfester anderer Grund dazu: Ich hatte alle Freiheiten, selbst zu bestimmen, wann, wo und wie oft ich welche Gigs in den Straßen performen wollte. Ein schöner Nebeneffekt war, dass das verdiente Geld nicht mehr geteilt werden musste. Das darfst du nicht unterschätzen, ich musste allein mit der Kohle durchkommen.
Es war zuerst wirklich nur eine praktische Lösung. Aber, als ich gemerkt habe, dass ich es tatsächlich hinkriege, wie eine volle Band zu klingen, entwickelte sich im Laufe der Jahre dazu mein Konzept weiter, es wurde meine Show. Diese spezielle One-Man-Band "Cam Cole" wurde zu dem Bandprojekt, das ich immer gesucht hatte.
Bist du ein Musiker, der magische Performances abliefert oder bist du ein Performance-Künstler, der Musik spielt – und funktioniert Cam Cole auch ohne die ekstatische Street-Performance?
Ich identifiziere mich als Musiker über die Auftritte. Die beste Möglichkeit, die Musik eines Musikers als echt wahrzunehmen, ist, diesen Musiker bei einer Live-Performance zu erleben. Ich bin dankbar für jeden, der stehen bleibt und zuhört oder zu meinen Gigs kommt. Musik ohne Zuschauer fühlt sich nur nach Proben an. Und Bühnen kann ich genauso rocken, wie die Straße.
Hattest du einmal einen Moment, bei dem du gesagt hast: Scheiß auf das schäbige „echt sein“, ich gehe zu "Britain‘s Got Talent" und verkaufe meine Seele?
Nein, solche Talentshows und TV-Formate haben mich nie gereizt. Die Leute von "Britain‘s Got Talent" haben ein paar Mal angefragt und sogar "America’s Got Talent" hat mit kostenlosen Flugtickets gewedelt. Ich habe dann irgendwann aufgehört, zu antworten. Sie sind für mich alles, was ich an der Kommerz-Kultur hasse. Musik wird dann nur zu einer leeren Ware.
Ich hatte allerdings ein paar "Scheiß darauf, echt zu sein"-Momente, als ich jünger war. Damals versuchte ich, bei einem Major-Label unterzukommen. Es wirkt für viele Musiker wie die Möglichkeit, alles zu bekommen, was sie wollen … oder vielmehr, was das Ego will. Das ist jedoch nicht "the real shit" und nur eine Ablenkung vom wahren Zweck, Musiker zu sein.
Musik zu machen bedeutet für mich, Klänge so zu organisieren, dass sie den Tag von Menschen positiv beeinflussen. That’s it! Der ganze Rest ist nur belangloser Bullshit drumherum.
Du vermittelst das Bild eines Straßenmusikers mit "New Age Flair", der irgendwo in den Wäldern wohnt und von Zeit zu Zeit die gewöhnlichen Menschen in Städten am Stück des bewusstseinserweiterten Universums durch deine Performances teilhaben lässt. Ist das nur eine Rolle – und wenn nicht, wie kann der Blick ins weite Universum auch auf großen Bühnen funktionieren?
Dies ist der einzige Moment des Interviews, bei dem Cam Cole auf dem Stuhl ungemütlich hin und her rutscht und einen sehr harten Blick bekommt, der zeigt, dass er schon viel als Musiker erlebt und gekämpft hat.
OK. Ich repräsentiere nichts und ich bin vor allem nicht "nur eine Rolle"! ... Lass mich das klarstellen ...
Wenn ich in den letzten sieben Jahren nur eine Rolle gespielt hätte, durch "busking" (Anm.d.Red.: auf der Straße performen) meinen Unterhalt verdient, in Transportern gelebt, an Hippie-Jams teilgenommen, illegale, kostenlose Warehouse-Partys musikalisch unterstützt, bei Biker-Festivals aufgetreten, Sonnenwendfeiern in Steinkreisen erlebt, Rucksacktouren gestartet, in Protestlagern gelebt und fast alle bekannten Psychedelika ausprobiert hätte, nur um meinen Fans – die ich bis vor kurzem noch nicht einmal hatte – eine vorgespielte Rolle zu verkaufen, die aus einem "New-Age-Typen" besteht, dann wäre es ein wirklich sehr langwierig vorbereitetes PR-Modell gewesen.
Wenn ich darüber nachdenke, kommen auf sowas eigentlich nur solche Teufel wie Simon Cowell. Muahahahah! (diabolisches Lachen)
Nee, Mate. Was du siehst, das bin verdammt noch mal ich selbst! Was ich tue im Leben und was ich in meinen Songs ausdrücke, sind Beweis genug. Und ob das Spielen auf größeren Bühnen ankommt? Da weiß ich nicht, was die Zukunft mir bringt. Wenn das Universum es will, soll es so sein. So oder so, drauf geschissen. Ich werde weiterjammen, egal, was kommen mag.
Dein Stil liegt zwischen Bluegrass, New-Orleans-Jazz, Delta Blues, Psychodelic Rock, Boogie-Woogie, Indie und Seattle-Sound, aber alles in einer Insel-Interpretation. Wo kommt deine Inspiration her? Welches sind deine musikalischen Aha-Effekte?
Nun, ich bin musikalisch aufgewachsen mit LED ZEPPELIN, BLACK SABBATH und 90er-Grunge-Bands wie NIRVANA oder PEARL JAM und war vor ein paar Jahren ein Metalhead während der Nu-Metal-Zeit. Das sind die Haupteinflüsse, die mir gerade spontan einfallen, und die mich als One-Man-Band begleiten.
Aber auch EDM und Dance interessiert mich. Ich nutze die treibenden Elemente und kann mich auch darauf beziehen, da ich viele Jahre von der Rave-Kultur und insbesondere Drum'n'Bass besessen war. Neurofunk Drum'n'Bass ist mein ultimativer Trip, um von computergesteuerten Sounds geflasht zu sein. I just fucking love that noise!
Ich habe übrigens immer viele andere Metal-Heads auf den Floors bei Neurofunk-D'n'B-Raves bemerkt, also glaube ich, dass die Sounds die computergesteuerte Tech-Version von Metal und Rock sind. Es ist eine interessante Szene. Raves haben eine Kombination aus Baseball-Cap-Prolls, Wreak-Heads, Hippies, aber auch Jungs mit langen Haaren und PANTERA-T-Shirts.
Ich mag auch Jungle und schäbigere Sounds aus diesem Genre, aber ich bevorzuge Drum'n'Bass. Eines Tages werde ich ein Projekt machen, das die Grenzen zwischen Rock, Metal und EDM erforscht.
Wenn du dich bald verpuppen müsstest, wie sähe die nächste Stufe der Entwicklung aus, was können wir von dir in den nächsten Monaten erwarten – was sind deine nächsten Projekte und Ziele?
Ich habe aktuell ein zweites Studio-Album direkt vor mir und arbeite gerade intensiv daran. Ich bin super aufgeregt, was damit passiert. Es ist ein härterer Sound als das "I See" -Album. Ich spiele meine Solid-Body-Gitarre (Anm.d.Red.: E-Gitarre, die nicht ohne Verstärker klingt), die ich seit meinem achten Lebensjahr habe. Es ist eine viel härtere, rockige Gitarre, die mich mit den One-Man-Band-Drums sehr inspiriert hat.
Ich liebe es einfach, die neuen Songs durchzugehen. Ich warte sehnsüchtig darauf, sie endlich rauszubringen, damit ihr sie hören könnt. Abgesehen davon stehe ich in den Startlöchern, um nach dem weltweiten Lock-Down endlich nach da draußen zu gehen und zu performen.
Wir haben Bock auf dich, keep on coleing!
Peace and love, vielen Dank für das gute Gespräche mit dir. Ich habe gemerkt, dass wir mehr und mehr CDs nach Deutschland schicken und da ich da noch nie war, habe ich richtig Lust, mir mal näher anzuschauen, was ihr da drüben so treibt. Allein schon deshalb, damit mein deutscher Produzent endlich mal aufhört, mir von eurem Bier zu erzählen, haha!
Alle Fotos © by J. Palmer