Geschrieben von Dienstag, 01 Juni 2021 10:57

Antiheld im Interview zum Album "Disturbia"

Antiheld im Interview zum Album "Disturbia" Foto: Antiheld / Arising Empire

Angesiedelt irgendwo zwischen Weißwein und Scorsese gelang der Stuttgarter Rockband ANTIHELD mit "Disturbia" Mitte April eine der spannendsten Deutschrock-Scheiben der letzten Jahre. Wir haben uns mit Gitarrist André Zweifel über das neue Werk, die Corona-Pandemie und die Doppelmoral der Gesellschaft unterhalten.

Servus André! Danke, dass du ein bisschen Zeit für uns gefunden hast. Wie geht‘s dir gerade so? Gut durch den Winter gekommen?

Vielen Dank, mir geht’s ganz gut soweit! Nach einem langen, von Lockdowns geprägten Winter schaue ich ganz zuversichtlich in Richtung Sommer und freue mich darauf, dass mit dem guten Wetter auch die Laune steigt! 

Ich muss zugeben, dass ich wahrlich kein ANTIHELD-Experte bin und jahrelang nur "Berlin am Meer“ von euch kannte. "Disturbia“ hat mich entsprechend überrascht, da es sich im Vergleich nach einer völlig anderen Band anhört. Wie kam die Entwicklung zustande?

Ich denke, es war eine ganz natürliche und letztlich auch konsequente Weiterentwicklung dessen, was schon auf "Goldener Schuss“ in Ansätzen zu hören war. Natürlich wollten wir auch eine klare Kante zu den Vorgängeralben setzen. "Disturbia“ ist ingesamt eher düster, zum Teil politisch und weniger poppig.

Euer Debüt "Keine Legenden“ ist damals noch bei Starwatch Entertainment erschienen, das (laut Wikipedia) zu 100% der ProSiebenSat1 Media SE untersteht und damit quasi der Inbegriff des Major-Pop-Labels ist. Euer zweites Album "Goldener Schuss“ ist dann bei Arising Empire rausgekommen, dem Label von Markus Staiger, Begründer von Nuclear Blast, einem der weltweit größten Metallabel. Das ist schon irgendwo ein Bruch, der sich ja wie oben angesprochen auch in der veröffentlichten Musik zeigt. Entsprechend würde mich interessieren, was eure Erfahrungen mit dem Debütalbum bei Starwatch waren und wieso ihr euch für diesen Bruch entschieden habt?

Dieser Bruch, wie du ihn beschreibst, liegt in der Natur der Sache. Es war keine aktive Entscheidung, die Zusammenarbeit zu beenden und uns neu zu orientieren. Vielmehr haben wir nach "Keine Legenden“ einfach Musik geschrieben, die für eine sinnvolle Zusammenarbeit mit einem Major-Label wie Starwatch ungeeignet war. So hat es sich ergeben, dass "Goldener Schuss“ letztlich bei Arising Empire erschienen ist.

Unterm Strich haben wir schnell gemerkt, dass wir keine klassische "Major-Band“ sind. Da spielen Dinge wie Fremdbestimmung und ein gewisser Druck zur Angepasstheit, wenn man es so nennen will, eine viel zu große Rolle. Wir sind eine Band, die losgelöst von Konventionen einfach die Musik machen möchte, die uns gefällt.

Daran anschließend: Wie gefällt es euch denn bis jetzt bei eurer neuen Labelheimat?

Wir haben jetzt zwei Alben bei Arising Empire herausgebracht. Die Zusammenarbeit ist ehrlich, eng und wir müssen uns nicht verbiegen. Unterm Strich war das für die letzten beiden Alben daher genau das Richtige für uns.

antiheld disturbia coverKommen wir auf "Disturbia“ zu sprechen: Ich bin ein großer Fan von Farbwahl und Design des Coverarts. Das fühlt sich alles durchdacht und wertig an. Was ist das Konzept dahinter?

Freut mich, dass es dir gefällt! Ganz konkret kann ich das gar nicht benennen. Es ist eher ein Gefühl in Kombination mit den Texten und der Musik, das transportiert werden soll. Das Album-Cover haben wir zusammen mit einem 3D-Artist entworfen. Schau dir auch mal die einzelnen Cover zu den Singles auf Spotify & Co an. Die sind etwas songspezifischer und konkreter in ihrer Aussage.

Laut Promotext ist "Disturbia“ ein echtes Pandemiealbum geworden, dessen gesamte Produktion während der Coronakrise stattgefunden hat. Die offensichtliche Frage ist da natürlich, inwiefern die Pandemie "Disturbia“ beeinflusst hat?

Die Pandemie hat den Entstehungsprozess von "Disturbia“ auf verschiedenen Ebenen beeinflusst. Dies gilt sowohl für das Songwriting als auch für die letztendliche Umsetzung. Die Songs für "Disturbia“ hat Luca (Opifanti / Sänger und Komponist; Anm. d. Red.) in der Zeit des ersten Lockdowns geschrieben. In dieser Zeit war er, wie wir anderen auch, sehr viel alleine zuhause. Die Welt stand gewissermaßen still und es gab sehr viel Zeit, in sich hinein zu horchen und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Nur so war es möglich, das Album an einem Stück ohne Unterbrechung durch Konzerte, Arbeit usw. zu schreiben. Ich finde, das hört man auch.

Da wir während des Lockdowns nicht zusammen im Proberaum arbeiten konnten, war auch die Vorgehensweise beim Arrangieren der Songs eine andere als üblich. Wir mussten neue Wege suchen und uns gewissermaßen neu erfinden, was kreative Arbeitsabläufe anbelangt. Jeder von uns hat sich zuhause ein kleines Homestudio eingerichtet, in dem er Spuren und Ideen auf die von Luca vorproduzierten Demos einspielen konnte. Nach sehr vielen hin und her geschickten Spuren, Feedbacks und Videokonferenzen hatten wir dann letztlich irgendwann Demos von "Disturbia“. Die finalen Albumaufnahmen haben wir nach Ende des Lockdowns im Studio eines Freundes, bei mir und bei unserem Produzenten Marius Fimmel gemacht.

Der zweite endlose Lockdown im Winter und der Winter allgemein waren nicht unbedingt die schönste Zeit, die wir jemals hatten. Eigentlich wären wir auf Arena-Tour als Support von SALTATIO MORTIS gefahren. Das hat aus bekannten Gründen natürlich so alles nicht stattfinden können. Wir haben jedoch, denke ich, das beste aus der Zeit gemacht. Bei keinem Album zuvor haben wir so viele Musikvideos gedreht wie zu "Disturbia“. Und da wir sowieso ständig an neuen Ideen und Musik arbeiten, konnten wir die Zeit für uns einigermaßen sinnvoll nutzen.

Textlich spricht "Disturbia“ eine große Palette spezifischer Themen an: Trauer, Rausch, Seenotrettung, Klimapolitik, Liebe, Kirche. Was ist denn für dich die Grundbotschaft von "Disturbia“?

Eine Grundbotschaft, welche sich aus allen Songs formt, sehe ich persönlich nicht. Das mag aber auch jeder anders interpretieren … Ganz allgemein kann man aber sagen, dass wir als Band sehr viel politischer geworden sind, was sich in kritischen und tiefgehenden Texten widerspiegelt. Nicht mahnend oder mit erhobenem Zeigefinger, eher so, dass es gerne zum Nachdenken anregen darf. Wie du schon in deiner Frage formulierst, geht es viel um Menschlichkeit, Doppelmoral, Egoismus, etc.

In Songs wie "Sommer unseres Lebens“, "Irgendwo stirbt grad ein Kind“ oder "Alles Gute für den Winter“ sprecht ihr auch konkrete politische Probleme und die Doppelmoral unserer Gesellschaft an. Wo unsere moralischen Ideale in direktem Gegensatz zu unserem tatsächlichen Handeln bzw. der Politik stehen. Wie sehr frustriert dich das und, ganz provokativ, wie bekommen wir das verbessert?

Das frustriert uns natürlich auf eine gewisse Weise sehr, deshalb sprechen wir es auch an. Eine pauschale Lösung für so große Grundprobleme haben wir logischerweise auch nicht am Start. Was wir jedoch machen können, ist, Menschen zu sensibilisieren und anzuregen, über diese Dinge nachzudenken, indem wir Songs darüber schreiben. Wir sind letztlich nur ein mikroskopisch kleines Zahnrädchen in einem riesigen Getriebe. Wenn allerdings mehr und auch größere Künstler ihre Reichweite für solche Dinge nutzen würden, wären wir vermutlich ein gutes Stück weiter.

Und hier kriegen wir auch ganz gut die Brücke zum Thema Major-Label aus einer vorherigen Frage. Songs wie “Standing In Line“, "Irgendwo stirbt grad ein Kind“ und "Alles Gute für den Winter“ haben in einer "angepassten“ Pop-Radio-Landschaft aktuell leider keinen Platz. Das eckt alles viel zu sehr an, ist nicht brav genug. Von daher haben wir, denke ich, alles richtig gemacht, uns davon zu lösen.

Apropos "Standing In Line“: Warum wechselt ihr eigentlich in einigen eurer Songs plötzlich ins Englische? Manchmal sind das Zitate, manchmal aber auch ein ganzer Refrain wie eben in "Standing In Line“.

Dahinter verbirgt sich keine großartige Geschichte. Das gab es auch schon in der Vergangenheit bei "Find What U Love“ auf "Goldener Schuss“. Manchmal passieren Dinge einfach so, wie sie passieren, wenn man im kreativen Flow ist. Ohne großen Plan oder Kalkül dahinter.

Zuletzt noch: Wie sieht die Zukunft für ANTIHELD aus? Pläne? Könnt ihr gerade überhaupt planen?

Wir arbeiten, wie vorher schon erwähnt, fleißig an neuen Ideen und neuer Musik. Wir haben für dieses und nächstes Jahr ein ziemlich verrücktes und großes Projekt geplant, über welches ich aber im Moment noch nicht sprechen möchte. Einfach dran bleiben, wir werden die Katze bald aus dem Sack lassen!

Kurz an dieser Stelle auch nochmal die Möglichkeit, den Fokus auf den gesamten Kultur-/Musikbetrieb zu legen: Wie kommt ihr als ANTIHELD durch die Krise und wie geht es eurer Crew und anderen Schaffenden in der Kulturbranche? Gibt es Projekte, durch welche Fans eventuell helfen können?

Wir kommen eigentlich überraschend gut durch die Krise. Wir haben sehr viel Support durch unsere Fans erfahren (ein fettes Dankeschön an dieser Stelle!) und auch alle noch Nebenjobs, mit denen wir uns über Wasser halten können. Vielen anderen, die komplett von der Musik leben, geht es da leider nicht so gut …

Ein spezielles unterstützenswertes Projekt fällt mir spontan nicht ein. Wenn jemand allerdings beispielsweise eine Band unterstützen möchte, dann kauft deren Merch. Neben Plattenverkäufen ist das gerade eines der wenigen Dinge, mit denen Bands Geld verdienen können. Es gibt auch immer wieder Streaming-Konzerte, bei denen Spenden für Kulturschaffende, deren Crews etc. gesammelt werden. Das wäre eine andere Möglichkeit.

Theo

Stile: Heavy-, Power-, Folk-, Pagan-, Symphonic-, Death-, Black Metal, Rock

Bands: Nightwish, Arch Enemy, Amorphis, Children Of Bodom, Audn, The GazettE, Evergrey, Winterstorm, Black Star Riders ...