Ehrlich gesagt musste ich eben ziemlich schmunzeln – der Radio-Kollege, der vor mir sein Interview mit euch hatte, hat praktisch Wort für Wort die Frage vorweggenommen, mit der ich eigentlich einsteigen wollte.
Tobias: Macht nichts. Stell uns zehn Mal die gleiche Frage, und wir werden dir jedes Mal was anderes erzählen! (Grinsen bei der kompletten Band)
Das klingt gut ... Also: Seit drei Wochen seid ihr auf eurer „Teenage Rebel“ Europa-Tour. 15 Gigs, davon zehn in Deutschland, die meisten sind ausverkauft. Wie läuft´s bisher aus eurer Sicht?
Marcus: Klasse! Es macht unheimlich Spaß und das Publikum ist der Hammer! Was wir hier zurückbekommen, ist unbeschreiblich. Wir sind superglücklich!
Es sind ein paar auffallend kleine Clubs dabei, und wo immer es machbar ist, ruft ihr über Instagram dazu auf, euch vor dem Auftritt zum Meet & Greet am Merch-Stand zu treffen. Der enge Kontakt zu den Fans scheint euch extrem wichtig zu sein.
Tobias: Definitiv! Wobei man dazu sagen muss, dass wir die Tour vor dem Release des aktuellen Albums gebucht haben, und zu dem Zeitpunkt war das Interesse irgendwie noch nicht so groß. Ein paar Wochen später stellte sich dann raus, dass einige Venues ehrlich gesagt zu klein sind und wir auch zwei Abende hintereinander dort hätten spielen können. Aber das war für uns nicht möglich. Hier in Memmingen ist die Größe genau richtig – 800 Leute sind nicht zu wenig, und trotzdem geht die Intimität nicht verloren, wir können den Fans in die Augen schauen. Aber klar – der direkte Kontakt zum Publikum hat für uns enorme Bedeutung!
2021 seid ihr wie ein Newcomer plötzlich auf der Bildfläche erschienen, dabei existierte die Band bereits seit mehr als drei Jahrzehnten. Innerhalb von drei Jahren habt ihr nun zwei Alben veröffentlicht und hervorragende Kritiken erhalten, ihr seid total gefragt und konntet in Wacken und auf anderen Festivals spielen. Als ihr 2021 mit den Aufnahmen zu „Kids In A Ghost Town“ begonnen habt, hättet ihr euch jemals vorstellen können, dass sowas passieren würde?
Tobias: Absolut nicht. Das war anfangs alles so überwältigend, es hat fast ein Jahr gebraucht, bis wir überhaupt kapiert haben, was um uns herum abgeht. Ich bin immer wieder aufgewacht und hab' mich gefragt, „Ist das echt, passiert das wirklich?“. Wir hatten uns zwar erhofft, dass ein paar eingefleischte 80er-Hardrock-Fans sagen würden, „Hey, wir lieben euer Album“. Aber das? Auf keinen Fall!
Bis auf Tobias hat der Rest der Band Jobs, die nichts mit dem Musikbusiness zu tun haben. Zwar sind alle über die Jahre an ihren Instrumenten aktiv geblieben – trotzdem die Frage: Wie war es möglich, dass ihr nach so langer Zeit in der Lage wart, auf diesem hohen Level wieder zusammen Musik zu machen?
Marcus: Ich denke, wir haben – und hatten immer – diese ganz besondere Chemie zwischen uns. Das erste Mal nach der langen Pause zusammengespielt haben wir kurz vor Corona bei einem kleinen Charity-Event in unserer Heimatstadt Falköping, nur ein paar Songs. Da haben wir gemerkt: Das hat echt Spaß gemacht, da steckt noch was in uns!
Als dann die Pandemie kam, hat Tobias angefangen, zusammen mit Jonny Songs zu schreiben, und sie haben gesagt, "Lasst uns versuchen, die Stücke mit der Band umzusetzen - wir wollen NESTOR neu beleben!". Da steckte noch immer dieser Stachel in der Haut, weil wir es in jungen Jahren als Band nicht geschafft hatten.
Aber ganz ehrlich: Als wir wieder zusammenkamen, waren wir wirklich „shitty musicians“, alle mussten erstmal wieder unfassbar viel üben.
Matthias: Alle bis auf Jonny. (Lachen, vor allem aber Zustimmung von allen Seiten)
Tobias: Aber im Ernst: Es war tough, richtig tough! Und wie sich dann alles innerhalb weniger Monate entwickelt hat, war unglaublich – vor allem die Zuschauerzahlen. Bei dem Charity-Konzert waren maximal 100 Besucher gewesen. Unser zweites Konzert war dann im Oktober 2021 die Release-Party zu „Kids In A Ghost Town“, 700 Leute. Vier Wochen später das Keep It True Rising-Festival in Deutschland – ich schätze, 2.000 Menschen. Wieder zwei Wochen später Vorprogramm für TAKIDA in Göteborg, 6.000 Besucher!
Wir hatten gerade sechs Mal zusammen auf der Bühne gestanden, als man uns Anfang 2022 zur Monsters Of Rock Cruise von Miami zu den Bahamas eingeladen hat. Diese Entwicklung innerhalb von knapp einem halben Jahr war total verrückt. Es ist was völlig anderes, ob du vor 100 Kumpels spielst oder vor 6.000 Leuten – und wenn du dir dann auf der Bühne zuflüstern musst, „Welcher Chord kommt jetzt?“. (Gelächter)
Also, es war hart, aber jetzt haben wir fast 100 Shows gespielt, da kommt das zum Glück nicht mehr so oft vor.
Um nochmal auf eure Jobs zurückzukommen: Martin, du bist Leiter eines Gymnasiums. Was sagen eigentlich deine Schüler dazu, dass ihr Direktor ein internationaler Rockstar ist?
Martin: Man soll es kaum glauben, aber tatsächlich sind meine Kollegen mehr daran interessiert als die Schüler – vermutlich, weil die Lehrer mein Alter haben. Von den Schülern spricht mich auf das Thema so gut wie keiner an. Aber ich glaube, im Prinzip finden sie es cool!
Jonny: „The Rockin´ Principal“! Eigentlich ein super Name für eine Reality-Show! (Gelächter)
Eure Musik ist bekanntermaßen von Bands inspiriert, die in den 80ern Rock, Hardrock und AOR groß gemacht haben: JOURNEY, FOREIGNER, SURVIVOR, VAN HALEN ... Gibt’s denn auch musikalische Einflüsse, die nicht sofort auf der Hand liegen und die eure Fans vielleicht sogar überraschen würden?
Tobias: Selbstverständlich hat uns die Musik der 80er massiv geprägt, CHICAGO und TOTO darf man da nicht vergessen, aber es gibt auch jede Menge moderner Einflüsse. Genau genommen höre ich in meinem Alltag mittlerweile ziemlich wenig 80er-Rock. Ich würde es daher mal so sagen: Unsere Wurzeln liegen in den 80ern, aber die Inspirationen kommen von überall her.
Marcus: Synthwave-Musik zum Beispiel spielt für uns eine große Rolle.
Tobias: Genau genommen geht's bei NESTOR aber immer darum, einen großartigen Song zu schreiben und ihm dann seine „80er-Klamotten“ zu verpassen.
Ihr alle seid um die 50, wir sind also in etwa gleich alt. Ich vermute, wir alle wissen aus Erfahrung, dass Glück, Erfolg und Gesundheit nicht unbedingt selbstverständlich sind. Gleichzeitig hat man im Leben viele Verpflichtungen. Wie ordnet ihr unter diesen Aspekten eure Situation persönlich ein?
Tobias: Definitiv sehen wir das, was mit der Band passiert, nicht als selbstverständlich an, können uns aber auch nicht unentwegt gegenseitig daran erinnern. Wir haben Familien und zuhause alle möglichen Sachen zu erledigen. Für mehrere Wochen auf Tour zu gehen, bedeutet daher für uns alle ein Hin- und Hergerissen sein. Aber wenn wir sagen würden, wir lassen es, weil wir stattdessen besser unsere Kinder zur Schule bringen sollten, würden wir das vermutlich bis ans Ende unseres Lebens bereuen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, nach 30 Jahren Pause mit derselben Besetzung plötzlich „die Welt zu erobern“ – das ist eine „one-time opportunity“, wie man sie nie wieder bekommt.
Marcus: Unsere Geschichte klingt wie die Story für einen Kinofilm, aber das Gute ist: Wir kontrollieren das Skript! Wir schreiben unsere Geschichte selbst, wir bringen unsere Familien mit rein, passen bei all dem auf sie auf – und auch auf uns gegenseitig.
Dennoch: Wie leicht – oder auch schwer – war es, dieses komplett neue Kapitel in eure Leben zu integrieren?
Marcus: Puh – Mamma mia ...
Tobias: Nun – obwohl alles unfassbar schnell ging, passierte es ja nicht komplett über Nacht. An unserem Debut „Kids In A Ghost Town“ haben wir mit allem Drum und Dran fast anderthalb Jahre gearbeitet, dazu drehten wir mehrere Videos. Wir und unser Umfeld konnten uns also durchaus auf eine Veränderung der Situation einstellen.
Spannend wurde es natürlich, als immer mehr Konzertanfragen reinkamen. Ich kann mich erinnern, dass wir am Ende der Pandemie ein Bandmeeting hatten, bei dem wir über die Angebote nachdachten und Matthias mich fragte, „Wir haben unsere Jobs, zum Teil noch kleine Kinder – wie viele Shows werden wir spielen?“. Und ich meinte, „Keine Ahnung. 24?“ (Wieder allgemeines Gelächter)
Jonny: Das Gute war, dass von Anfang an unsere Freundinnen, Frauen und die Kinder bei den Planungen berücksichtigt wurden.
Matthias: Tatsächlich ist diese Tour hier die erste, bei der wir auch an Werktagen spielen. Vorher sind wir nur an Wochenenden aufgetreten, was natürlich für alle einfacher war.
Tobias: Als das erste Album fertig war, habe ich zu den anderen gesagt, "Diese Musik ist so sehr in meinem Herzen, und wenn wir alle das fühlen, dann wird es da draußen womöglich weitere Menschen geben, die das ebenfalls spüren.". Und das ist ein Risiko oder auch eine Chance – je nachdem, wie man es sieht. Kann schon passieren, dass sich Leute melden und sagen, „Wir wollen, dass ihr zu uns nach Brasilien kommt!“.
Auftritte auf einem anderen Kontinent sind ein gutes Stichwort. Mal völlig unabhängig von möglichen künftigen Entwicklungen: Wie sähe es für euch mit einer Tour in den USA aus? Ich könnte mir vorstellen, dass das amerikanische Publikum eure Musik lieben würde.
Jonny: Um in den USA vernünftig zu touren, muss man vor Ort sein, und das für eine ziemlich lange Zeit. Wir könnten zwar just for fun gelegentlich ein paar Gigs dort spielen, aber das würde nicht viel bewegen. Deshalb sehe ich aktuell nicht, dass wir das tun werden.
Tobias: Ja. Aber: Never say never!
Ich habe das Gefühl, ihr macht nur Dinge, von denen ihr wirklich überzeugt seid. Beispiel: Euer eigenes Festival, das „NESTOR-Fest“ in Falköping, bei dem ihr jedes Jahr als Headliner auf der Bühne steht. Ich habe gelesen, dass es zunächst viele Skeptiker gab, die glaubten, das geht komplett in die Hose.
Tobias: Ja, die gab's. Inzwischen hat das Festival drei Mal stattgefunden und war jedes Mal ausverkauft, diesen Sommer mit 3.500 Besuchern. Letztes Jahr hatten wir ALPHAVILLE mit dabei, das war cool! Wir haben von Anfang an gesagt, das ist unser Festival, wir behalten die komplette Kontrolle und machen es genau so, wie wir es für richtig halten. Und die Leute scheinen es zu mögen, deshalb machen wir weiter.
Eure laufende Tour endet in einer Woche. Was passiert danach mit NESTOR?
Jonny: Im Dezember machen wir einiges an Radio-Promotion. Und wir müssen unsere Konzerte und Festivalauftritte fürs nächste Jahr planen.
Tobias: Außerdem findet im Dezember in Schweden die Weltmeisterschaft im Floorball statt. (Red.: Floorball ist eine Art Indoor-Hockey, von den Regeln her eher mit Eishockey verwandt und in Schweden sehr populär.) Unsere Single „Victorious“ ist der offizielle WM-Song, und wahrscheinlich werden wir im Rahmen der Halbfinals einen kurzen Auftritt spielen.
Und was die entferntere Zukunft von NESTOR angeht? Gibt es eine Art Masterplan für die nächsten Jahre oder geht ihr einfach Schritt für Schritt weiter und schaut, was möglich ist?
Tobias: Wir haben einen Masterplan, aber der ist streng vertraulich! (lacht) Nein, kein Masterplan, höchstens ein Plan, aber den brauchen wir aufgrund unserer speziellen Situation auch. NESTOR ist einfach nicht die Band, die du von jetzt auf gleich buchen kannst – (Tobias imitiert ein Telefonat): „Würdet Ihr morgen bei uns spielen?“ – „Keine Chance!“ – „Würdet Ihr nächsten Sommer bei uns spielen?“ – „Wir rufen demnächst zurück!“. Anders geht's nicht.
Abschließende Frage: Ich könnte mir vorstellen, dass unter euren Anhängern nicht jeder auf Instagram ist, wo ihr aktuell recht aktiv seid. Gibt's etwas, das ihr euren Fans hier auf diesem Wege gerne noch mitteilen möchtet?
Tobias: Natürlich! Ich denke, das Wichtigste, das wir den Leuten sagen können, ist ...
Jonny: Don't give up your dream!
Tobias: Oh ja – definitiv! Aber noch wichtiger finde ich, den Fans zu sagen, dass sie der Grund sind, warum NESTOR hier sind, warum wir überhaupt auf Tour gehen können. Die Menschen, die unsere Scheiben kaufen, unsere Musik hören, zu den Konzerten kommen und Geld für unser Merch ausgeben – ohne diese Fans würde es keine 2.0-Version von NESTOR geben!
Marcus: Ja, der Support unserer Fans ist schlichtweg unglaublich. Deshalb von uns allen: Danke!
NESTOR sind auf Instagram zu finden unter @nestor_theband
Ganz vielen Dank an dieser Stelle an NESTOR, aber auch an alle Beteiligten hinter den Kulissen, die dieses Gespräch kurzfristig möglich gemacht haben!