Und jährlich grüßt der Wacken-Wahnsinn: Kaum ist der Matsch an den Gummistiefeln getrocknet, geht die größte Metal-Party der Welt auch schon wieder in die nächste Runde – Wacken Open Air 2016! Nach der unglaublichen letztjährigen Schlammschlacht stellten sich viele der 75.000 Besucher vorab nur eine Frage: Wie gut oder schlecht ist der Wettergott dieses Mal gelaunt?
Glücklicherweise erweist sich Petrus 2016 über die gesamten Festivaltage weitaus gnädiger als im Jahr zuvor. Von hochsommerlichen Bedingungen kann allerdings dennoch keine Rede sein. Ohne passendes Schuhwerk läuft im wahrsten Sinne des Wortes nichts. Aber daran haben sich die Metalheads mittlerweile gewöhnt. Ungewohnt sind hingegen einige Änderungen, die sich die Organisatoren für die 27. Ausgabe des W:O:A haben einfallen lassen. Dazu zählen unter anderem die erfreuliche Rückkehr zu den schmerzlich vermissten 0,4-Liter-Bechern beim Bierausschank oder die Auslagerung der Wrestling-Arena aus dem Bullheadzelt.
Das zuvor ausgesprochene Taschen- und Rucksackverbot auf dem Festivalgelände sorgt dagegen eher für gespaltene Meinungen. Licht und Schatten gibt es beim Wacken 2016 auch bei den gesichteten Bands, wobei sich das Bullheadzelt als kleiner Garant für Überraschungen herausstellen soll. Aber dazu später mehr.
Mittwoch – Anreise, Erkundungstour und Einlassstop
Wie jedes Jahr erfolgt die Anreise unserer kleinen Reisegruppe am Mittwochnachmittag. Und als wenige Minuten nach Öffnen des Kofferraums die Zelte stehen (wir werden jedes Jahr besser) und das erste Bier geöffnet ist, überkommt uns dieses wohlige Glücksgefühl, das jeder kennt, der schon einmal auf dem Wacken war. Denn trotz aller Veränderungen im Leben ist dieses kleine Stück Land an der nördlichen Spitze Deutschlands ein kleines Stückchen zu Hause.
Wir lassen uns treiben und erkunden die umliegenden Zeltplätze, das Wackinger Village und das Waste Land. Bis auf die Tatsache, dass der Wrestlingring nicht mehr im Bullhead steht, sondern nun in einem eigenen Zelt untergebracht ist – sowie ein Stand der Firma Teufel mit einer überdimensionalen Lemmy-Statue davor –, fallen uns keine großen Veränderungen auf.
Mit einem Barbarenspieß in der Hand schlendern wir an der WASTELAND STAGE vorbei, wo gerade MONSTAGON ihr Unwesen treiben. Die Band, die klassischerweise dem Film MAD MAX "Fury Road" entsprungen sein könnte, überzeugt uns nicht wirklich. Halbwegs attraktive Tänzerinnen wiegen die Hüften zu unoriginellem Gitarrengeschrammel. Die Tatsache, dass Gitarrist Timo Schramm den Künstlernamen "Schrammel" trägt, zeugt aber immerhin von Humor.
Eine halbe Stunde vor Beginn von PHIL CAMPBELL’S ALL STARR BAND versuchen wir, ins Bullheadzelt zu gelangen. Ganz offensichtlich sind wir aber nicht die Einzigen, die sich ein Bild vom Soloprojekt des ehemaligen MOTÖRHEAD-Gitarristen machen wollen. Mehrere Hundert Menschen schieben sich in Richtung der schmalen Gitterzugänge zum Zelt – und dann geht nichts mehr. Wir können von unserer Position nicht überblicken, ob das Zelt voll ist (der Bereich davor ist es nicht) oder welcher Grund vorliegt, dass niemand mehr vorbeigelassen wird. Nach ca. 15 Minuten steigt einer der Ordner auf die Gitter und brüllt etwas durch ein Megafon. Verstehen kann man nichts. Aufgrund der zahlreichen Vorfälle der letzten Wochen und meiner leichten Klaustrophobie sehen wir uns gezwungen, nach weiteren zehn Minuten die wartende Menge zu verlassen. Die Sorge, dass sich ein solcher Vorfall in den nächsten Tagen wiederholt, stellt sich glücklicherweise als unberechtigt heraus.
Donnerstag – Zombie, Zivilisation und Legenden
Ein Blick auf die Running Order reicht, um unser erstes Ziel für den Tag auszuwählen: ZOMBIES ATE MY GIRLFRIEND. Wie kann man diesem Namen widerstehen? Als wir dann aber mit leichter, matschbedingter Verspätung im Bullhead ankommen (trotz deutlich weniger Regen ähnlich schlechte Verhältnisse wie in 2015), müssen wir zu unserer Enttäuschung feststellen, dass wir den 20-minütigen Gig gerade verpasst haben. Nur der Schlussapplaus ist noch zu hören.
Das Gute im Zelt: Es geht Schlag auf Schlag weiter. Sobald die Interpreten auf der W:E:T Stage den letzten Akkord gespielt haben, macht sich der nächste Act auf der Headbangers Stage bereit. In diesem Fall die Melodic Metaller von THE RAVEN AGE. Die Briten waren bereits Supporting Act bei IRON MAIDENs "Book of Souls" Tour in den USA. Eine Zusammenarbeit, die nicht ganz zufällig entstanden ist, denn Sänger George Harris ist der Sohn von MAIDEN-Bassist Steve Harris.
Tatsächlich scheint sich die Band aber nicht nur durch Vitamin B einen kleinen Namen in der Branche gemacht zu haben. Die Songs sind angenehm eingängig und haben trotzdem einen progressiven Anstrich. Leider ist der Sound vor der Bühne so brachial schlecht, dass man das Potenzial der Raben eher erahnen als hören kann. Die gleichnamige EP "The Raven Age", die am 5. Juli erschienen ist, kann man sich aber getrost einmal anhören.
Den Nachmittag verbringen wir dann auf mein Drängen hin im Dorf. Denn auch wenn manche von uns schon mehr als zehn Mal auf dem W:O:A waren, das Dorf hat außer mir noch niemand gesehen.
Solltet auch ihr noch nicht dort gewesen sein, dann empfehle ich bei eurem nächsten Festivalbesuch einen Abstecher dorthin. Denn neben deutlich entspannteren Bier- und Snackpreisen findet ihr dort auch diverse Biergärten, aufwändig geschmückte Vorgärten und kleine Bühnen mit Livemusik. Besonders im Gedächtnis geblieben ist uns ein Swing-Sänger mit Hemd und Krawatte, der von Kuttenträgern eifrig für sein „New York, New York“ beklatscht wurde. Und seien wir mal ehrlich: Zwischendurch ein paar Stunden auf befestigten Wegen zu spazieren, ist irgendwie auch schön.
Nach diesem kurzen Ausflug in die „Zivilisation“ geht es direkt zur Black Stage, wo FOREIGNER zu einer musikalischen Zeitreise in die goldenen Jahre des Hardrock einladen. Die britisch-amerikanischen Megastars haben in diesem Festivalsommer bereits einige gefeierte Gigs abgeliefert und auch an ihrem Wacken-Gastspiel gibt es musikalisch absolut nichts zu bemängeln. Technisch brillant feuern die Rock-Oldies einen Hit nach dem anderen ins Publikum, wobei vor allem die Ausnahmestimme des aktuellen Leadsängers Kelly Hansen heraussticht. Spätestens bei altbekannten Evergreens wie „Cold As Ice“ und selbstverständlich „I Want To Know What Love Is“ schallen die Refrainzeilen aus tausenden Kehlen.
Als die Sonne langsam gen Erde sinkt, gibt es für mich nur noch ein Ziel: IRON MAIDEN! Seit Jahren versuche ich, die Briten spielen zu sehen, doch jedes Mal kam etwas dazwischen. Damals auf dem Sziget-Festival in Budapest spielten sie am Abend vor dem offiziellen Festivalstart, der dann überraschend noch mal 90 Euro extra kosten sollte (die ich nicht hatte), ein anderes Mal, als sie in Hamburg waren, kam ein Urlaub dazwischen und beim Wacken 2010 war der Ansturm so groß, dass wir nicht aufs Infield gelassen wurden. Aber heute, heute wird mir nichts dazwischenkommen. Schade nur, dass zur gleichen Zeit THERAPY? auf der W:E:T Stage spielen. Kurzerhand teilen wir uns nach Interessengebieten auf und besuchen beide Shows.
21:30 Uhr: Das Licht auf der True Metal Stage erlischt. Kurz ist alles schwarz. Dann entzünden sich Flammen auf der Bühne, Scheinwerfer wandern über das Publikum und die Stimme von BRUCE DICKINSON ertönt. In dichte Nebelschwaden gehüllt steht der Ausnahmesänger alleine auf der Bühne und performt die ersten Zeilen von „If Eternity Should Fail“. Gänsehaut. Mit einem Paukenschlag erscheint der Rest der Band und steigt ins Geschehen ein.
Was MAIDEN in den nächsten 90 Minuten abfeuern, ist ein fulminantes Best-Of durch alle Dekaden der Bandgeschichte. Dickinson und seine Mannen wissen genau, was die Fans hören wollen und beweisen auch mit der Set-Reihenfolge ein gutes Gespür.
Überflüssig zu sagen, dass das gesamte Infield bei „Children Of The Damned“, „The Trooper“ und „Fear Of The Dark“ begeistert feiert und mitsingt.
Bei „The Book of Souls“ hat das siebte Bandmitglied und Maskottchen der Band seinen – im wahrsten Sinne des Wortes – großen Auftritt. Mit einer beeindruckenden Höhe von mindestens drei Metern stapft Eddie auf die Bühne und liefert sich einen Kampf mit Dickinson, an dessen Ende der Sänger dem Monster das Herz aus der Brust reißt und ins Publikum wirft. Eddie wirkt wenig beeindruckt, sondern eher genervt von der Tatsache, dass er gerade sein wichtigstes Organ verloren hat. Kopfschüttelnd zieht er sich zurück, um bei „Iron Maiden“ abermals zu erscheinen. Dieses Mal als riesiger, schlecht gelaunter Kopf, der am Ende des Songs Funkenfontänen aus Mund und Augen sprühen lässt.
Während IRON MAIDEN das prall gefüllte Infield beschallen, haben die nordirischen Alternativerocker von THERAPY? die schwierige Aufgabe, im Bullheadzelt für Stimmung zu sorgen. 1994 veröffentlichte die Band mit dem Album „Troublegum“ einen fast schon legendären Meilenstein, an dessen Erfolg sie nie wieder anknüpfen konnten. Doch davon lassen sich die Jungs ebenso wenig beeindrucken wie von ihrem undankbaren Slot auf der W:E:T Stage. Vor einer erstaunlich großen Zuschauermenge spielen sich THERAPY? in 45 Minuten einmal quer durch ihre Diskografie und haben sichtlich Spaß auf der Bühne. Und spätestens beim Überhit „Screamager“ sind sich alle Anwesenden einig, dass man sich für die ideale Alternative zu den eisernen Jungfrauen entschieden hat.
Nach der gelungenen Therapiestunde geht es auf der Headbangers Stage direkt mit MICHAEL MONROE weiter. Der finnische Ex-Sänger von HANOI ROCKS ist quasi ein wandelndes Hardrock-Klischee, das sich selbst nicht zu ernst nimmt. Seit einer gefühlten Ewigkeit im Geschäft weiß Monroe genau, wie er die Massen animieren kann. Und so sorgt er mit seinem bewusst übertriebenen Stageacting und lustigen Hairmetal-Songs für kurzweilige 45 Minuten.
Zur gemeinsamen Huldigung von BLUE ÖYSTER CULT treffen wir uns wieder im Zelt. Die Hardrock-Band gründete sich bereits 1967 und gilt als Erfinder des sogenannten Heavy-Metal-Umlauts – auch „Röck Döts“ genannt. Berühmte Vertreter dieser Schreibweise sind zum Beispiel MOTÖRHEAD oder MÖTLEY CRÜE. Ich gebe zu, dass ich außer den beiden bekanntesten Auskopplungen „(Don't Fear) The Reaper“ und „Godzilla“ keinen einzigen Song kenne und auch nicht viel mit den Herren anfangen kann. Ein Blick in die verhaltenen Gesichter um mich herum verrät mir, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht. Trotzdem ist es natürlich immer toll, ehemalige Wegbereiter live zu sehen.
Wir bleiben direkt an Ort und Stelle, denn im Zelt folgt nun die Metal Karaoke. Dieser Programmpunkt, der vom Titel her erst einmal ein bisschen abschreckend wirkt, erweist sich als kleines Highlight. Talentierte Hobbysänger aus dem Publikum können sich Songs wünschen und diese dann live auf der Bühne performen. Von AC/DC über RAGE AGAINST THE MACHINE bis hin zu SLAYER ist hier alles möglich.
Freitag – Duschbier, Barden und ein ungleiches Duo
Seit wir beim letztjährigen Wacken Open Air aufgrund von Dauerregen dazu gezwungen waren, mehrere Stunden im trockenen Auto die dort befindliche CD-Sammlung in Dauerschleife zu hören, hat die 2006 erschienene Scheibe „Outcast“ von EKTOMORF einen ganz besonderen Platz in unseren Herzen eingenommen. Insbesondere das Schlagzeug-Fill-In bei „I Choke“ (Timecode 0:50 Min.), von uns liebevoll "Bum-Bum-Zack" genannt, hat es uns angetan. Dementsprechend groß ist die Freude, dass wir die sympathischen Camouflage-Liebhaber aus Ungarn dieses Jahr live auf der Bühne sehen können.
45 Minuten Spielzeit stehen auf dem Programm. Schnell ist klar, dass EKTOMORF sich vorgenommen haben, das Zelt komplett abzureißen. Mit ihrem groovigen Stakkato-Sound brettern die Gitarren durch das Publikum. Sänger Zoltán Farkas keift und brüllt sich durch das Set und wirkt dabei aggressiv wie eh und je. Auch live gilt bei den Herren, was bei jedem der neun Studio-Alben zutrifft: Man weiß, was man bekommt. Wie eine Walze drücken sich „Holocaust" und "Evil By Nature" vom aktuellen Album "Aggressor" durch die Reihen und laden zu wilden Sprüngen und Circle Pits ein. Eine Einladung, die die anwesenden Metalheads nur zu gerne annehmen. Als der letzte Song "Outcast" aus den Boxen ballert, sind wir trotz des fehlenden „I Choke“ bester Laune.
Die nachfolgenden DEEZ NUTS können das aufgepeitschte Publikum leider nicht so gut einfangen, wie ihre Vorgänger. Viele verlassen das Zelt, als die australische Hardcore-Band, die sich stark durch ihre Rap-Parts auszeichnet und nur leichte Metaleinflüsse aufweist, die W:E:T Stage betritt. Auch uns geht es ähnlich und so verlassen wir nach kurzer Zeit das Zelt, um uns einem der großen Auftritte des Tages anzusehen: Denn auf der Black Stage gibt sich jetzt eine der bekanntesten Metallerinnen die Ehre: Tarja Turunen ist mit ihrem Soloprojekt TARJA angereist, um abermals den Beweis anzutreten, dass Streichinstrumente, Pianoklänge und fette E-Gitarrenriffs eine ganz wunderbare Kombination sein können.
Im schwarz-weißen Paillettenkleid Marke Schleswig-Holsteiner Milchkuh zeigt die ehemalige NIGHTWISH-Fronterin ganz klar, warum sie nach wie vor eine der einflussreichsten Frauen im Metal ist. Stimmgewaltig und charismatisch trällert sich die finnische Sopranistin durch die Show. Was für das ungeübte Ohr (so wie meines) beizeiten etwas schrill klingt, versetzt Opernfans und Freunde der klassischen Gesangskunst in Ekstase. Gekonnt präsentiert TARJA Werke ihrer Solokarriere wie das eingängige, leicht poppige „Never Enough“ vom 2013 veröffentlichen Album "Colours In The Dark" oder „Innocence“ vom aktuellen Longplayer „The Shadow Self“, welches frisch am Tag des W:O:A Auftritts in den Handel gekommen ist. Aber auch ein NIGHTWISH-Medley, mit dem sie treuen Fans Freudentränen in die Augen treibt, darf selbstverständlich nicht fehlen.
Zur großen Überraschung des Publikums holt sich Tarja für „Demons In You“ eine prominente Unterstützerin auf die Bühne: ALISSA WHITE-GLUZ von ARCH ENEMY. Schon rein optisch bietet das ungleiche Duo einiges. Neben der klassischen Eleganz von Tarja mit den glatten dunklen Haaren und dem eleganten Kleid wirkt Alissa mit ihrer blaugrünen Mähne, in kurzen Hotpants und Netzstrumpfhose noch punkiger und rebellischer als sonst. Wo sich aber Growl-Parts mit klassischem Gesang kreuzen, geht es nicht so richtig zusammen. Trotzdem eine schöne Kombination, von der ich mir durchaus mehr gemeinsame Projekte vorstellen könnte. Beendet wird die Show mit Tarjas Powerballade „Until My Last Breath“ und einem breiten Lächeln der Finnin, bevor sich die Musiker abschließend zu PRINCEs „Purple Rain“ ausgiebig vom Publikum feiern lassen.
Nur wenige Minuten nachdem der Vorhang gefallen ist, beginnen nebenan BLIND GUARDIAN mit ihrer Show. Bereits zum sechsten Mal stehen die Power Metaller hier auf der Bühne. Das erste Mal 1992 zusammen mit SAXON, die übrigens 2016 zum neunten Mal Teil des W:O:A waren. Für Besucher, die bereits einige Male auf dem Acker waren, machen sich genau wegen solcher Wiederholungen langsam Abnutzungserscheinungen bemerkbar. 2007 habe ich den „Bard's Song“ noch begeistert mitgesungen und war ergriffen von tausenden Feuerzeugen, die das Infield in ein Lichtermeer verwandelten. Mittlerweile aber habe ich eher das Gefühl von „Danke, kenn ich schon“. Eben aus diesem Grunde waren wir in diesem Jahr auch so begeistert vom Bullheadzelt. Die Bands, die dort spielen, sind auch für Stammbesucher neu und frisch.
Aber sei es drum: BLIND GUARDIAN sind für viele Festivalbesucher nach wie vor einer der Gründe, sich ein Ticket zu kaufen. Und auch dieses Jahr enttäuschen Hansi Kürsch und Konsorten nicht. Ab dem ersten Ton von "The Ninth Wave" geht das Publikum mit und klatscht begeistert im Takt.
Für viele sind BLIND GUARDIAN einfach ein Stück Jugend. Die Musik versetzt einen zurück in die Zeit, als an der schwarz gestrichenen Kinder- oder WG-Wand noch Drachenposter und Airbrush-Gemälde von kämpfenden Rittern hingen und man seine Abende mit Pen-&-Paper-Spielen verbracht und dazu billigen Rotwein getrunken hat. So ist es auch kein Wunder, dass die alten Klassiker wie „The Last Candle“ oder „Lord Of The Rings“ immer noch die größte Begeisterung im Infield auslösen.
Und ja, ich gebe es zu: Auch dieses Mal werde ich beim „Bard's Song“, der nur von einer sanft gezupften Gitarre und von einem 70.000 Mann starken Stimmenmeer getragen wird, ein wenig sentimental. Es ist fast wieder wie 2007. Nur, dass die Feuerzeuge dieses Mal von Smartphones ersetzt werden.
Nach minutenlangen Zugabe-Rufen geben sich die blinden Hüter einen Ruck und treten mit „Valhalla“ noch einmal aufs Gaspedal, bevor sie unter lautem Jubel ihres ganz eigenen Wacken-Chors die Bühne verlassen.
Trotz großer Namen auf den Hauptbühnen finden wir unser heutiges Tages-Highlight mal wieder unter dem schützenden Dach des Zeltes. Die grandiose Stoner-Rock Band mit einer nicht abzustreitenden Vorliebe für Bier, RED FANG, betritt kurz vor Mitternacht die Bühne. Wer die ursympathische Gruppe noch nicht kennt, sollte sich unbedingt mal deren Videos angucken. Der Clip zu "Prehistoric Dog" lohnt sich besonders und lässt sich mit "Ritter der Kokosnuss meets Waynes World" ganz gut zusammenfassen.
Auf der Bühne halten sich RED FANG nicht mit überflüssigem Gefrickel auf. Die Songstrukturen sind klar und druckvoll. Fronter Aaron Beam kennt nur eine Richtung: nach vorne. Nur wenige Bands schaffen es in diesem Genre, gleichzeitig kreativ und trotzdem so geradlinig zu sein. Das Publikum dankt es den Erfindern des Duschbieres mit wilden Springeinlagen, Circle Pits und lautem Jubel.
Der Freitag neigt sich langsam aber sicher dem Ende zu und die ersten Festivaltage zeigen langsam Wirkung, sodass sich nur ein kleiner Teil unserer Gruppe die altgedienten Bay-Area-Thrasher TESTAMENT zu Gemüte führt. Zugegebenermaßen ist zwei Uhr nachts eine nicht wirklich ideale Spielzeit. Das macht sich auch bei den ziemlich mauen Publikumsreaktionen bemerkbar. Während der ersten Songs herrscht vor der True Metal Stage akute Bewegungslosigkeit. Chuck Billy und Gefolge lassen sich davon jedoch nicht beeindrucken und feuern eine tighte Thrash-Salve nach der anderen ab. Doch irgendwie will der Funke einfach nicht überspringen. Deshalb streichen schließlich auch wir nach kurzer Zeit die Segel und schleppen uns Richtung Campingplatz.
Samstag – monumentale Shows, Leo-Leggings und alte Schwestern
Auch der letzte Tag des W:O:A beginnt ganz im Zeichen unserer neuen Lieblingsbühne. Bereits um 13:10 Uhr, also zu nachtschlafender Zeit, stehen die Progressive-Metaller von MONUMENTS auf der Bühne und zerlegen alles! Technisch versierte Djent-Klänge gepaart mit Metalcore- und Progressive-Einflüssen treffen auf eingängige, cleane Vocals und voluminöse Growls. Im Zentrum des Geschehens steht Fronter Chris Barretto (EVER FORTHRIGHT, ex-PERIPHERY), der nicht nur durch seine Stimme, sondern vor allen Dingen durch seine Bühnenpräsenz und seine sympathische Art das ganze Zelt in seinen Bann schlägt. In kürzester Zeit verwandelt sich das Publikum von einer müden Masse in eine wilde Feiermeute.
Im Fokus des Sets stehen die Songs des aktuellen Albums „The Amanuensis“. Bereits in der heimischen Anlage geht das 2014 erschienene Werk ordentlich nach vorne und bietet viele musikalische Facetten, aber live schaffen es die Jungs, noch mal eine ganze Wagenladung an Dynamik und Energie draufzulegen. Auch wenn Chris Baretto als Nachfolger von Matthew Rose anfangs einen schweren Stand hat, muss man sagen, dass der Amerikaner auf der Stage ein absolutes Brett liefert. Meisterlich versteht er es, die Vorteile einer kleinen Bühne und die damit verbundene Fannähe auszuspielen. Bei „I, The Creator“ lässt er sich ins Publikum sinken und beendet auf Händen getragen den Gig. Ein absolutes Highlight des diesjährigen Wacken, welches in Zahlen mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.
Was DEVILDRIVER im Anschluss auf der Party Stage verdient hätten, wäre ein guter Sound gewesen. Aber wie so oft in diesen Tagen schaffen es die Techniker nicht, das Optimum herauszuholen. Viel zu leise und ähnlich matschig wie die Bodenbeschaffenheit. Nachdem nicht mal „Daybreak“ und das AWOLNATION-Cover „Sail“ für Stimmung sorgen, entschließen wir uns weiterzuziehen und den geschundenen Körpern ein bisschen Ruhe und Flüssigkeit zu gönnen.
Wenig später stehen wir bei strahlendem Sonnenschein und mit bester Laune im Gepäck vor der True Metal Stage und bejubeln die Spandexträger von STEEL PANTHER. Frontmann Michael Starr erklärt dem Publikum, was es die nächsten 80 Minuten erwarten kann: „An alle von euch, die uns schon beim letzten Mal in Wacken gesehen haben: Wir haben die exakt gleiche Show vorbereitet. Und an alle, die uns noch nie gesehen haben: Wir haben für heute eine komplett neue Show vorbereitet.“ Tatsächlich ist der Auftritt eine gelungene Mischung aus Musik und Comedy, der aber – wie angekündigt – keine Überraschungen für Leute enthält, welche die Metal-Panther schon einmal gesehen haben.
Das ist aber auch egal, denn wer zu einem Konzert der Glam-Metaller geht, weiß genau, was ihn erwartet: augenzwinkernde Texte, die von Prostitution in Asien, Sex im Altersheim und Freude spendenden Löchern in Wänden handeln. Dazu jede Menge Busenblitzer des weiblichen Publikums und ganz viel Duckfaces vom schönsten Bassisten der Welt: Lexxi Foxx.
In der Mitte des Sets schnappt sich Michael ein junges Mädchen aus dem Publikum und bringt es auf die Bühne. Zuvor hatte die Band noch gescherzt, dass Deutschland ein großartiges Land sei, weil man seinen Gelüsten hier schon mit 13 nachgehen kann. Als die Dame mit den geflochtenen Zöpfen und silbrig glänzender Zahnspange dann aber auf die Frage nach ihrem Alter ein begeistertes „Sixteen“ ins Mikro quietscht, scheinen selbst dem erfahrenen Bühnenprofi kurz die Worte zu fehlen. Aber the Show must go on! Also wird der begeisterte Teenager kurzerhand auf einem Barhocker geparkt und mit „Community Property“ romantisch besungen.
Danach kommt das, worauf sich die meisten Herren im Publikum gefreut haben dürften: Getreu dem Songtitel „16 Girls In A Row“ werden eine ganze Reihe attraktiver Damen auf die Bühne geholt, die hinter den Kulissen auf ihren Auftritt gewartet haben. Die Diskussion, ob die hübschen Ladys gekauft sind oder aus dem Publikum stammen, löst sich von selbst, als wir in der Schar eine Bekannte entdecken. Scheinen also tatsächlich – zumindest teilweise – echte Fans zu sein. Auch das Teenager-Mädchen ist noch dabei und lässt die Hüften kreisen. Als man auf der Großleinwand sieht, wie sie für die Kamera eine eindeutige BJ-Geste zum Besten gibt, frage ich mich kurz, ob auch dieses Konzert im Fernsehen übertragen wird und wie stolz ihre Eltern wohl gerade auf sie sind.
Als Starr und Konsorten die Bühne verlassen, vernehme ich hinter mir eine enttäuschte Männerstimme: „Für eine STEEL PANTHER Show waren das viel zu wenig Brüste.“
Von DAGOBA auf der W:E:T Stage bekommen wir leider nur die letzten drei Songs mit, weshalb ein aussagekräftiges Urteil an dieser Stelle nicht möglich ist. Shawter und seine Mannen haben aber sichtlich Spaß an der Sache. Auch wenn das Zelt bei Weitem nicht ausgelastet ist (eine Bestellung an der Bar ist in unter einer Minute möglich), feiern so gut wie alle Anwesenden die Franzosen lautstark.
Da die Bühnenwechsel im Zelt sehr schnell vonstattengehen, werfen wir noch einen Blick auf BUFFALO SUMMER. Die Jungs wollen auf den ersten Blick so gar nicht hier her passen und gerade Frontmann Andrew Hunt wirkt mit seinem zarten Gesicht und dem Schellenkranz in der Hand, als sei er dem Film "Happy Metal" entsprungen. Ihr wisst schon, die Bühnenszene beim Erdbeerfest.
Nichtsdestotrotz können die aus South Wales, New York stammenden Musiker mit ihrer eigenwilligen Mischung aus Rock'n'Roll, Funk- und Blueselementen das Publikum für sich gewinnen. Besonders Bassist Darren King strahlt eine Spielfreude aus, die ihresgleichen sucht, und lenkt alle Blicke auf sich. Die Frage, weshalb in der ersten Reihe so viele Herrschaften deutlichen höheren Semesters stehen, löst sich auf, als zum großen Finale des Gigs Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Wacken mit diversen Blasinstrumenten die Bühne betreten und BUFFALO SUMMER musikalisch unterstützen.
TWISTED SISTER auf der True Metal Stage nehmen wir eher am Rande wahr. Die Hair-Metaller haben Anfang der 80er Jahre für ordentlich Furore gesorgt und gerade Sänger Dee Snider polarisierte mit seinem provokativen, Draq-Queen ähnlichen Äußeren und wurde gleichermaßen zum Helden der jungen und zum Hassobjekt der älteren Generation. Einer der größten Hits „We’re Not Gonna Take It“ gilt bis heute als Garant für volle Tanzflächen und Partystimmung. Demensprechend hoch ist der Zuspruch im Infield, als die Schwestern den Song anstimmen und ihn dann konsequenter Weise gefühlte 15 Minuten in Dauerschleife wieder und wieder mitsingen lassen. Auch bei „I Wanna Rock“ können Snider und seine Kollegen auf voller Linie überzeugen und sich laute Zugabe-Rufe sichern, woraufhin zur Freude von Fans und Musikern gleichermaßen noch drei weitere Songs folgen.
Langsam aber sicher neigt sich das Wacken 2016 dem Ende entgegen und der letzte große Headliner macht sich bereit, um die restlichen Funken Energie aus der müden Masse zu kitzeln.
Vor zwei Jahren mussten ARCH ENEMY noch als erste Band am Samstag auf der Black Stage gegen die Mittagshitze und müde Festivalbesucher ankämpfen. 2016 herrschen andere Voraussetzungen. Als Headliner haben Alissa White-Gluz und ihre Mannen nicht weniger als die spektakulärste Live-Produktion ihrer Karriere angekündigt. Das Bühnenbild ist mit großen weißen Logo-Vorhängen und mächtigem Drum-Podest jedenfalls schon mal sehr stimmig. Nach einem kurzen Intro fällt der Startschuss zu einem 75-Minuten-Best-Of-Programm.
Bereits im Laufe der ersten Songs ist schnell klar, dass sich das Hauptaugenmerk auf Frontfrau White-Gluz richtet, die das Bewegungslevel im Vergleich zum Rest der Band konsequent hochhält. Während der blauhaarige Eyecatcher die Masse unterhält, konzentrieren sich die Jungs eher auf eine spieltechnisch einwandfreie Performance. In Verbindung mit einer exzellenten Lightshow, wechselnden Bühnenbauten und Outfits sowie diversen Pyroeffekten liefern ARCH ENEMY eine würdige Headliner-Show ab, die sie ruhigen Gewissens auf die geplante DVD brennen können.
Sonntag – Abreise
Müde kriechen wir aus den Zelten. Es ist 7:00 Uhr und auf dem Campinggelände ist noch alles friedlich. Sanftes Schnarchen dringt an unsere Ohren. Die große Abreisewelle startet erst gegen 9:00 Uhr. Schnell verstauen wir unsere Habseligkeiten in den Autos und prosten uns mit Kaffee zu. Nächster Halt nach einem kurzen Stopp in Hamburg sind die PUNK ROCK HOLIDAYS in Slowenien – am nächsten Abend spielen dort SICK OF IT ALL, und wir wollen dabei sein (Bericht folgt).
Bis nächstes Jahr Wacken. War wieder schön mit dir.
Vielen Dank an dieser Stelle an Coautor Andre Kummer und an Sebastian Linke für die Fotos.
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Vero
Gastautorin mit Wacken-Expertise