Durch unsere späte Ankunft (die zentrale Lage der Mitsubishi Electric Halle ist eine Katastrophe für alle, die mit dem Auto anreisen) verpassen wir leider das Opening, in dem das Orchester auf den Abend einstimmt und nicht nur klassische Werke wie Beethovens "Mondscheinsonate" und Mozarts "Lacrimosa", sondern auch Instrumentalversionen von "Sally's Song" und "Together Again" zum Besten gibt. Immerhin kommen wir mitten in der Pause an und sitzen püntlich zum Hauptact in der komplett bestuhlten Halle.
Ein klassischer Abend mit EVANESCENCE
Als Amy Lee und die Streicher die ersten Töne der "Overture" anstimmen, die wie auf dem Album direkt in "Never Go Back" übergeht, taucht das bunt gemischte Publikum in ein mitreißendes Konzerterlebnis ab. In der Mitte der Bühne, umrahmt von Streichern und Bläsern, sitzen Tim McCord, Troy McLawhorn und Jen Majura.
Das Trio sorgt dafür, dass neben sehr dosiert eingesetzten, stark verzerrten Riffs zahlreiche verfremdete Electro- und Synthie-Effekte aus den Boxen wabern. Dahinter drischt Will Hunt wie wild auf sein E-Drum-Kit ein, während sein Namensvetter und "Synthesis"-Produzent neben ihm weitere spannende Effekte kreiert.
Vor ihrer Band führt eine bestens aufgelegte Amy Lee durch einen ganz besonderen Abend. Mal nimmt sie hinterm Piano Platz, meist jedoch steht sie am Mikrofon in der Mitte der Bühne und singt Nummern wie "My Heart Is Broken", "Lithium", "Imaginary" oder "Your Star" mit einer solchen Inbrunst, dass man mit offenstehendem Mund immer wieder staunend den Kopf schütteln muss. Diese Stimme! Diese Leidenschaft!
Ob kraftvoll oder zart, hoch oder tief, langgezogen oder abgehackt: Wer dem hypnotischen Zauber dieser Stimme, die nicht ein einziges Mal wackelt, nicht ein ums andere Mal mit einer dicken Gänsehaut erliegt, darf sich fett "völlig emotionslos" auf die Stirn tätowieren lassen. Insbesondere die den Fans gewidmete, hochemotionale und zu Tränen rührende Performance bei "My Immortal" jagt mir jetzt noch Schauer über den Rücken.
Amy Lee zieht alle in ihren Bann
Zwischendrin gibt sich die Bandleaderin als charmante Gastgeberin, bedankt sich bei den Fans, dem "local orchestra" und ihrer Band. Insbesondere die aus Stuttgart stammende Gitarristin Jen Majura fühlt sich sichtlich wohl, grinst immer wieder von einem Ohr zum anderen und liefert punktgenaue Backing Vocals ab. Zwischen den Songs brandet ohrenbetäubender Jubel auf, ansonsten ist das Publikum selbst bei Mitsing-Nummern dem klassischen Rahmen gemäß ruhig und genießt die Symbiose aus Electro und Orchester mit allen Sinnen. Dank dezenter Lightshow und kristallklarem Klang ist Zuhören und Zuschauen ein absoluter Genuss.
In der Setlist fehlen weder der Mega-Hit "Bring Me To Life", "Lost In Paradise" oder "Lacrymosa", noch die neuen Songs "Hi-Lo" und "Imperfection". Als Zugabe stimmen die Streicher und Amy am Piano ihre Solo-Nummer "Speak To Me" an, bevor das wunderschöne "Good Enough" einmal mehr für eine dicke Gänsehaut sorgt. Zum schwebenden "Swimming Home" kommt noch einmal die komplette Band auf die Bühne, bevor die Zeugen eines ganz besonderen Abends nach anderthalb Stunden wieder in den schnöden Alltag zurückgeholt werden.
EVANESCENCE mag nicht die produktivste Band sein (das letzte "richtige" Studioalbum erschien 2011), doch wenn sich Bandkopf Amy Lee etwas in den Kopf gesetzt hat, zieht sie es konsequent durch. So auch mit ihrer jahrelang gehegten Idee, ihre Songs mit Orchester- und Electro-Sounds neu zu vertonen. Dafür, dass die Band "Synthesis" auch auf die Bühne gebracht und für ein unvergessliches Konzerterlebnis gesorgt hat, kann man ihr gar nicht genug danken.
Bleibt noch der neidische Blick nach Nordamerika, wo EVANESCENCE im Sommer im Rahmen von "Synthesis: Live" erneut unterwegs sind – verstärkt um Star-Geigerin Lindsey Sterling ...
Setlist
Orchester
La Chasse (Wolfgang Amadeus Mozart)
Moonlight Sonata (Ludwig van Beethoven)
Lacrimosa (Wolfgang Amadeus Mozart)
Sally's Song
Zelda's Lullaby
Together Again
Evanescence mit Orchester
Overture
Never Go Back
Lacrymosa
End of the Dream
My Heart Is Broken
Lithium
Bring Me to Life
Unraveling
Imaginary
Secret Door
Hi-Lo
Lost in Paradise
Your Star
My Immortal
The In-Between
Imperfection
Speak To Me
Good Enough
Swimming Home