Allein schon die Geschichte von NESTOR wäre einen eigenen Artikel wert. 1989 gründen fünf Schulfreunde aus der kleinen schwedischen Stadt Falköping, anderthalb Autostunden von Göteborg entfernt, eine Band. Sänger Tobias ist zu dem Zeitpunkt gerade mal 15. Die Jungs sind talentiert, doch nach zwei erfolglosen EPs gehen NESTOR ab 1996 getrennte Wege, ohne die Band allerdings offiziell aufzulösen.
Eine Karriere als Berufsmusiker rückt für fast alle in weite Ferne, eine Ausbildung und das Gründen einer Familie stehen nun im Vordergrund. Bassist Marcus Åblad macht Karriere bei der Polizei, Keyboarder Martin Frejinger wird Lehrer, Drummer Matthias Carlsson Techniker beim schwedischen Rundfunk. Gitarrist Jonny Wemmenstedt wird Tätowierer und ist heute zudem in einem Tierpark angestellt.
Einzig Sänger Tobias Gustavsson bleibt der Musik vollends treu. Er macht sich als Komponist, Produzent und Live-Musiker im Popbereich einen Namen (u.a. arbeitet er für die NO ANGELS, PINK und SILBERMOND) und geht als Sänger der Rockband STRAIGHT FRANK (Anspieltipp: die flotte Alternative-Metal-Single „Monster“ von 2012) im Vorprogramm von DEEP PURPLE und ALICE COOPER auf Tour. Als Corona zuschlägt, lebt er bereits seit einigen Jahren mit Frau und Kindern in Barcelona. Der Kontakt zu den alten Freunden in Schweden ist nie abgerissen, und im Lockdown kontaktiert Tobias Jonny, um gemeinsam an Songideen zu arbeiten.
On The Run
Der anvisierte Stil ist schnell klar: Hochmelodischer, keyboardgetragener Rock und Hardrock, inspiriert von den Bands, die die Jungs in ihrer Jugend selbst am Liebsten gehört haben. Tobias und Johnny trommeln auch den Rest der Band wieder zusammen, und in Barcelona entsteht 2021 – ganze 32 Jahre nach der Bandgründung – das offizielle NESTOR-Debut „Kids In A Ghost Town“.
Das witzige, selbstproduzierte Video zu „On The Run“ (mit dem bekannten „Call The Police“-Refrain) katapultiert die Band in den Fokus der Fans, Radiostationen und Rock-Magazine – und es weckt auch das Interesse der Konzert-Booker. Innerhalb kürzester Zeit flattern der „neuen alten Band“, von der nur Frontmann Tobias wirklich professionelle Bühnenerfahrung besitzt, Angebote en masse ins Haus – NESTOR starten durch!
Doch ist der Hype wirklich gerechtfertigt? Nachdem „Kids In A Ghost Town“ bei mir nach einer Weile ehrlich gesagt – wohl auch in Folge der steten Veröffentlichungsflut im Rock- und Metal-Bereich – wieder ein wenig in Vergessenheit geraten war, hätte ich dies vermutlich in Zweifel gezogen. Mit ihrem 2024 erschienenen Zweitwerk „Teenage Rebel“ haben NESTOR allerdings nochmal ordentlich nachgelegt – soundtechnisch und auch die Qualität der Kompositionen betreffend.
Stücke wie der Titelsong, das treibende „We Come Alive“ oder die Bandhymne „Victorious“ entwickelten bei mir schon nach wenigen Durchläufen eine echte Sog-Wirkung und dürften kaum jemanden unberührt lassen, für den Perlen wie „Burning Heart“ (SURVIVOR) oder „Separate Ways (Worlds Apart)“ von JOURNEY zu den großartigsten Songs gehören, die je geschrieben wurden. NESTOR gelingt es perfekt, den Sound der 80er in die heutige Zeit zu transportieren, ohne wie ein müder, lauer Aufguss zu wirken.
Somit stellte sich vor dieser recht überschaubaren Europa-Tournee (neben zehn Auftritten in Deutschland waren noch fünf weitere in Schweden, Finnland, Österreich und der Schweiz angesetzt – Ticketpreis: weniger als 30 Euro) die nächste Frage: Sind NESTOR als Quasi-Teilzeit-Musiker überhaupt in der Lage, ihre Qualitäten live auf der Bühne umzusetzen?
Auch das kann zum Glück mit einem begeisterten „Aber sowas von!!!“ beantwortet werden. Die Besucher im Kaminwerk Memmingen erleben am Sonntagabend, den 3. November 2024, ein Konzert der Extraklasse, das für die meisten unvergesslich bleiben dürfte.
Zeitreise mit Gänsehaut-Effekt
Nach der starken Vorgruppe VELVETEEN QUEEN – fünf schwedische Youngster, deren Live-Sound irgendwo zwischen SKID ROW, AEROSMITH und den BLACK CROWES changiert und die man auf jeden Fall auf dem Zettel behalten sollte – läutet die unvergessene Trainingsmelodie aus dem „Rocky IV“-Soundtrack vollkommen passend die bevorstehende Zeitreise zurück ins Jahr 1985 ein.
NESTOR legen mit „We Come Alive“ dynamisch los. Optisch präsentiert sich die Band auf dieser Tour in einer Art Karnevals-Uniform – das ist garantiert komplett unpolitisch gemeint, unterstreicht aber trefflich die Einheit, mit der sich NESTOR auf und neben der Bühne präsentieren.
Als unangefochtener Dirigent steht Sänger Tobias im Blickpunkt des Geschehens. Dem Mann scheint einfach alles leicht von der Hand zu gehen: Er ist Organisator, Sprachrohr, Antreiber und kreatives Zentrum der Band und schüttelt sich als Hauptsongwriter eine wunderbare Melodie nach der anderen aus dem Ärmel. Dazu ist er mit einer Stimme gesegnet, die mich an den 2014 verstorbenen Jimi Jamison von SURVIVOR erinnert und mit der er in den größten Arena-Bands der Welt mühelos bestehen würde.
Live unterläuft ihm nicht ein einziger Patzer und er meistert selbst die höchsten Töne in einer Art Weise, dass zumindest mir ein ums andere Mal ein eiskalter Schauer über den Rücken läuft. Dazu ist Tobias auch noch ein überaus selbstbewusster und charmanter Conférencier, der das Publikum zur Einleitung einzelner Songs gerne mit Anekdoten aus der eigenen Jugend unterhält.
So erfahren die Zuschauer, dass er als Teenie unsterblich in seine doppelt so alte Schwedisch-Lehrerin verliebt war („The One That Got Away“) und dass auch ein echter Blutsbrüderschwur à la Winnetou und Old Shatterhand mit aufgeritzten Handflächen zwischen Jonny und ihm damals nicht zum gewünschten Band-Erfolg führte („Signed In Blood“).
Perfektes Rock-Entertainment
Apropos Jonny: Der Mann an der Gitarre glänzt unentwegt und in aller Seelenruhe mit blitzsauberen Riffs und Soli. Der Sound ist extrem klar und transparent und während des kompletten Gigs ist von der ganzen Band nicht ein einziger schiefer Ton zu vernehmen. Martin unterlegt alles mit einem dichten Keyboard-Teppich, wie man ihn von den frühen EUROPE-Scheiben kennt und der bei einem Song wie „Caroline“ auch durchaus mal kitschig rüberkommen darf. Das ist der Sound, wie ihn die großen Vorbilder 40 Jahre zuvor geprägt haben und dem sich heute Abend hier niemand entziehen kann.
Was diesen Auftritt aber letztlich so besonders macht, sind wohl vor allem zwei Dinge: Auch Stücke, die auf Platte bislang vielleicht ein wenig untergegangen sind, gewinnen live enorm an Druck und entfalten eine mitreißende Wirkung. Hinzu kommt die extrem nette, unaufgeregte, nahbare Ausstrahlung der Band.
Während seine Mitstreiter auf große Posen verzichten und sich stattdessen auf ihre Instrumente konzentrieren, ruft Tobias die komplette Klaviatur des Rock-Entertainments ab. Er tanzt, springt, boxt und kickt über die Bühne, ohne dass es auch nur einen Moment peinlich oder aufgesetzt wirken würde. Die Fans danken es NESTOR, indem sie johlen, klatschen und mitsingen – schon lange habe ich nicht mehr so viele freudestrahlende Gesichter um mich herum gesehen. Das in so einem überschaubaren, familiären Rahmen erleben zu dürfen, ist wirklich unbezahlbar.
Nach knapp 90 Minuten beenden NESTOR mit dem überragenden „1989“ ihren Triumphzug und werden vom begeisterten Publikum im Kaminwerk minutenlang frenetisch gefeiert. Die Band genießt es ihrerseits, jede Sekunde regelrecht in sich aufzusaugen. Sämtliche Musiker steigen freudestrahlend runter in den Fotograben, um ausgiebig mit den Fans in den ersten Reihen abzuklatschen, Plektren und Drumsticks zu verteilen und sich gebührend zu bedanken und zu verabschieden. NESTORs Aufgabe scheint es zu sein, Menschen glücklich zu machen. Mission erfüllt!
Wie NESTOR mit ihrem unerwarteten Erfolg umgehen und warum Auftritte der Band auch künftig Seltenheitswert haben werden, erfahrt ihr in einem ausführlichen NESTOR-Interview, das ich vor dem Konzert im Kaminwerk Memmingen mit der Band führen durfte.
Setlist NESTOR:
„We Come Alive“ / „Kids in a Ghost Town“ / „Addicted to Your Love“ / „Stone Cold Eyes“ / „Last to Know“ / „Perfect 10 (Eyes Like Demi Moore)“ / „The One That Got Away“ / „Unchain My Heart“ / „Signed in Blood“ / „Victorious“ / „Caroline“ / „Firesign“ / „On the Run“ / „Teenage Rebel“ / „1989“