Nach 40 Jahren Bandgeschichte begibt sich die größte brasilianische Metalband aller Zeiten auf Abschiedstournee. Die Europatournee ist bereits abgeschlossen, jetzt wird vom eigenen Land Abschied genommen – oder "despedido", wie man hier sagt.
Normalerweise spielen größere Bands eher im Süden, dem reicheren Teil des Landes, in den großen Städten wie São Paulo, Rio de Janeiro, Curitiba oder Belo Horizonte. Städte im Norden werden standardmäßig eher vernachlässigt. Dass eine derart erfolgreiche Band wie SEPULTURA noch ein letztes Mal in ganz Brasilien spielt und auch ärmere Städte wie Manaus, Salvador oder Recife abklappert, ist ein wirklich großes Geschenk für die hiesige Metal-Gemeinde.
Wer in Brasilien auf ein Konzert gehen und sich ein Ticket online bestellen will, wird vielleicht kurz verwirrt sein, denn hier gibt es mehrere Optionen: Da viele Orte Brasiliens von Armut geprägt sind, insbesondere der Nordosten des Landes, kann man sich entweder dafür entscheiden, das Ticket im Vollpreis zu bezahlen oder nur den halben Preis, wenn man 1 kg haltbare Lebensmittel mitbringt, die anschließend gespendet werden. Ich finde das System ziemlich sinnvoll, denn nicht nur die Konzertbesucher:innen sparen, sondern es kommt auch eine unfassbare Spendensumme in Form von Linsen, Reis und Bohnen zusammen, von denen die Bewohner:innen der Stadt profitieren. Ich könnte mir solch eine Art von Rabattsystem auch sehr gut in Europa vorstellen, dort habe ich etwas Vergleichbares noch nicht erlebt.
Als ich um 20:30 Uhr an der Olinda Music Hall ankam, war die erste Vorband DESALMA schon voll zu Gange. Leider habe ich den kompletten Gig verpasst, da zwar der Einlass erstaunlich gut geregelt war, die Gästeliste aber leider nicht und es dann doch ein bisschen länger gedauert hat, bis ich die richtige Person erreichen konnte. Aber da ich Brasilien in seinem Chaos kennen- und lieben gelernt habe, hatte ich mich auf Verzögerungen am Einlass bereits eingestellt und danach ging auch alles ganz fix.
RATOS DE PORÃO
Bereits im Außenbereich konnte ich dem Bandmerch nach urteilen, dass wohl auch sehr viele Fans für RATOS DE PORÃO gekommen waren. Die 80er Punkband aus São Paulo gehört zu den Pionieren des brasilianischen Punk und Hardcore und hat durch ihre politischen, sozialkritischen Texte die Musikszene stark geprägt. Entsprechend sind sie auch die perfekte Supportband für die „Brazilian Farewell Tour“.
Die Arena der Olinda Music Hall wurde eingeteilt in einen teureren Frontstage-Bereich und den hinteren billigeren Stehplatz-Bereich. Da jedoch eher wohlverdienende Personen – und damit auch in der Regel ältere Menschen – sich die Frontstage-Tickets leisten können, bedeutete das nicht unbedingt, dass die Stimmung im Frontstage-Bereich besser war als in anderen Bereichen der Arena. Stattdessen hatte ich eher den Eindruck, dass der hintere Bereich energiegeladener war als direkt vor der Bühne.
RATOS DE PORÃO spielten einen groben Abriss ihrer auch mittlerweile über 40 Jahre langen Bandgeschichte aus über 14 Alben. Mit mehr als 20 Tracks, unter anderem „Beber Até Morrer“, „Sofrer“ oder „Aids, Pops, Repressão“ konnten sie die Menge sehr gut abholen. Insgesamt kamen die Songs ihres bekanntesten Albums „Brasil“ sehr gut an und die Masse war am Mitgrölen.
SEPULTURA
Einigermaßen spät für europäische Verhältnisse, nachdem die letzten Töne des TITÃS-Tracks „Polícia“ verklungen waren, betrat etwa gegen 23 Uhr die brasilianische Legende SEPULTURA die Bühne. Mit erst recht schlichtem Bühnenbild starteten sie direkt mit Vollgas mit „Refuse/Resist“ und „Territory“. Später ließen sie das Banner fallen und die Tracks wurden mit super ergänzenden Visuals auf der LED-Leinwand begleitet.
Obwohl die Band auf ihr 40-jähriges Bestehen zurückblickte, zeigte sie eine großartige physische Präsenz auf der Bühne. Sänger Derrick Green und Gitarrist Andreas Kisser lieferten eine kraftvolle Performance ab und der neue Schlagzeuger Greyson Nekrutman sorgte für frischen Wind, obwohl die Band am Ende ihrer Karriere angekommen ist.
Die Energie des Publikums im hinteren Bereich war, wie ich es von einer brasilianischen Metalshow erwartet hatte, unglaublich gut. Generell ist es nicht einfach, derart riesige Hallen in allen Ecken zum Beben zu bringen, aber das brasilianische Publikum ist sich definitiv für nichts zu schade: Headbangen, Springen und drei Moshpits füllten den Stehbereich.
Das Publikum schien hauptsächlich aus 30- bis 40-Jährigen zu bestehen, die mit der Band in den 90ern und frühen 2000ern aufgewachsen sind. Dies spiegelte sich in der allgemeinen Stimmung der Show wider, denn die Moshpits fanden, wie erwartet und bereits bei RATOS DE PORÃO beobachtet, weiter hinten statt, im billigeren Bereich. Das Gefühl des Abschieds und des Endes der Band war mehr durch die allgemein ruhigere Stimmung des älteren Publikums vor der Bühne zu spüren als durch die Band, die nicht viel Zeit mit traurigen Verabschiedungen oder Reden verbrachte, sondern eine straffe und gut ausgeführte Show bot.
Die Moshpits spiegelten leider ein wenig die „Macho“-Kultur der Metal-Szene wider, mit viel weniger beteiligten Mädchen als Männern, obwohl viele Frauen da waren. Vielleicht fühlten viele sich nicht wohl, denn Moshpits in Brasilien folgen angeblich einem älteren, aggressiveren Konzept: Sie sind ein Echo der Punk-Moshpits der Ghettos und vergessenen Gassen in der Innenstadt, wo Wut und echte Probleme mit der Aktivität verflochten werden.
Die Show fühlte sich nicht wie eine bloße Ansammlung von Songs aus dem Bandkatalog an, sondern war stattdessen eine gelungene Präsentation dessen, was diese Band einzigartig macht. Mir fiel der gezielte Einsatz von Songs auf, die brasilianische Musikelemente verwenden, wie auch die mutige Entscheidung, „sanftere“ Auszeit-Songs mit der 10-saitigen Steel-Gitarre und der „Alfaia“-Percussion zu spielen.
Die Vielseitigkeit der Band zeigte sich auch in dem schnellen Wechselspiel zwischen den Stilen, von frühen Death-Metal-Songs zu den groovigeren Metal-Rhythmen und Nu-Metal. Ich hätte mir gewünscht, dass SEPULTURA mehr Songs von herausragenden Alben wie „Chaos A.D.“ und „Roots“ dabei gehabt hätten, aber vielleicht war es eine gute Entscheidung, sich auf die Vielfalt zu konzentrieren und nicht auf die erwarteten Knaller.
Eine weitere Überraschung war der klare Sound. Die Instrumente verschwammen nicht, sondern blieben knackig, und die Tonmischung war wirklich exzellent. Auch Lautstärke-technisch war das wohl eine meiner gesündesten Konzerterfahrungen, denn der Ton war genau laut genug, um nichts an Stimmung einzubüßen und nach dem Konzert auch ohne Ohrenstöpsel kein Gefühl zu haben, wie in Watte gepackt zu sein.
Meine persönlichen Highlights der Show waren „Guardians Of Earth“, „Kaiwoas“, dessen Percussion-Jam zusammen mit der SEPULTURA-Crew und RATOS DE PORÃO gespielt wurde, und selbstverständlich der krönende Abschluss, eine Fusion aus „Ratamahatta“ und „Roots Bloody Roots“. Gegen 1 Uhr nachts wurden wir schließlich schweißgebadet, ausgelaugt, mit blauen Flecken und sehr zufrieden in die noch andauernde tropische Hitze entlassen.
Das SEPULTURA-Despedido-Konzert hier in Recife als letztes Konzert 2024 für die Band selbst, wird für immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Já tenho muitas saudades!