66,6 Metal Stories: Chaos, Kult und Kirchenbrand

66,6 Metal Stories: Chaos, Kult und Kirchenbrand
    Seichte Metal-Nostalgie-Literatur

    Label: Riva
    VÖ: 19.11.2024
    Bewertung:Kurzweilig und unterhaltsam, aber am eigenen Ziel gescheitert

    Rockstories.de


Dass sich zwischen der Metalszene und religiösen Kulten verblüffende Parallelen finden, wird unter Beobachtern und Mitgliedern der Szene gerne diskutiert und zelebriert. Diese Verwandtschaft hebt auch kein Geringerer als Maik Weichert, Gitarrist von HEAVEN SHALL BURN, im Vorwort des im November erschienenen Buchs "66,6 Metal Stories: Chaos, Kult und Kirchenbrand" nochmal in aller Deutlichkeit hervor. Die Autoren dieser recht kurzweiligen Lektüre, Christof und Andrea Leim, haben sich, so suggeriert es zumindest das Vorwort, mit ihrem 192 Seiten starken Buchneuling ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Nichts weniger als ein textliches Fundament für diesen Kult niederzuschreiben – eine Art „Bibel“ für Headbanger. Dieses Ziel ist keineswegs bescheiden. Die beiden Schreiberlinge möchten nicht nur die legendären Geschichten des Genres erzählen, sondern auch aus der riesigen Auswahl an Legenden und Geschichten genau diese 66,6 selektieren, die gewissermaßen das Fundament, die Essenz des Genres und der Kultur darstellen.

Sie erzählen also von ikonischen Tourneen und epischen Bühnenshows von IRON MAIDEN, zeichnen Bandgründungen und Karrieren nach, von KREATOR und POSSESSED bis DESTRUCTION und ANTHRAX, und beleuchten tragische Ereignisse wie den Mord an PANTERA-Klampfer Dimebag Darrell vor 20 Jahren oder die düsteren und grauenhaften Hintergründe von MAYHEM und BURZUM. Auch schwindelerregende Tourabenteuer von DORO finden Platz zwischen den Buchdeckeln, ebenso wie Peavey Wagner's Vorliebe für Knochen, Jonathan Davis' Erfahrungen mit sehr vielen toten Körpern im Wohnzimmer oder abenteuerliche Supergroups um SKID ROW, GUNS'N'ROSES und METALLICA.

Das klingt vielversprechend, und tatsächlich bietet "66,6 Metal Stories" viele kurzweilige, teils amüsante Geschichten. Besonders IRON MAIDEN, die in geschätzt der Hälfte aller Geschichten vorkommen, dominieren dabei aber das Buch leider so stark, dass andere Genre-Schwerpunkte fast zur Randnotiz werden. Zwar werden auch Thrash-Metal-Größen wie ANTHRAX oder METALLICA gefeiert, doch modernere Entwicklungen in der Metal-Landschaft – von Metalcore über Djent bis hin zu progressiveren Acts – bleiben, von der Geschichte um AS I LAY DYING-Fronter Tim Lambesis abgesehen, unerwähnt.

Die Folge ist ein eklatanter Fokus auf britischen Heavy Metal und Bay Area Thrash nebst deutschen Legacy-Acts wie DORO, RAGE, DESTRUCTION oder KREATOR, deren stilprägende Tage wohl ebenfalls längst vorüber sind. Die Autoren pickten sich gewissermaßen die allergrößten Genre-Legenden auf der einen Seite, ein paar Anekdoten zur deutschen Szene auf der anderen Seite heraus und leiten daraus, so suggeriert es das Vorwort, einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch dieser Geschichten als Fundament der Metalszene ab.

Die Auswahl irritiert also, wenn das Buch den Anspruch erhebt, die Essenz der gesamten Metal-Kultur einzufangen, und es wirkt, als habe man bei der Planung des Werks irgendwie eher die nächstbesten und/oder bekanntesten Stories ausgegraben. Extrem erfolgreiche und mindestens ebenso anekdotenreiche moderne Acts wie PARKWAY DRIVE, ARCHITECTS oder BRING ME THE HORIZON kommen in der Lektüre leider nicht vor. GOJIRA, SEPULTURA und KORN sind ebenso höchstens als Randnotiz erwähnt wie LAMB OF GOD, SYSTEM OF A DOWN, AVENGED SEVENFOLD oder DISTURBED, wenngleich jede einzelne dieser Bands das Genre zweifellos geprägt und bis heute lebendig gehalten haben, gar allesamt in der ersten Liga der erfolg- und einflussreichsten und stilprägendsten Bands überhaupt spielen.

Stattdessen finden Anekdoten, die zwar unterhaltsam, aber eher marginal für das große Ganze sind, ihren Weg ins Buch – etwa die Geschichte über das Leben von DESTRUCTION-Frontmann Marcel Schmier als Konditor oder die Postkartensammlung von SODOM-Fronter Tom Angelripper. Das ist irgendwie unterhaltsam, erscheint aber eher wie eine Kuriosität denn als kulturell relevante oder gar stilprägende Geschichte, wenngleich solche Stories sicherlich stellvertretend das Janusgesicht vieler Metal-Musiker hervorheben, die zwischen bitterbösem Dämonengegurgel und ungewöhnlich interessantem Privatleben genau die Vielfalt und Individualität verkörpern, für die Metalheads ihre Szene so lieben.

Die Sprache des Buches ist leicht zugänglich, oft ironisch, aber nie tiefgründig. Viele Vermutungen und lockere Formulierungen tragen dazu bei, dass "66,6 Metal Stories" weniger wie ein ernsthaftes kulturhistorisches Werk wirkt, sondern eher wie ein sehr begrenztes Sammelsurium für zwischendurch. Wer detaillierte Analysen oder neue Perspektiven sucht, vor allem der internationalen Szene, wird enttäuscht.

Das Buch hat dennoch seinen Wert: Es bündelt und erzählt bekannte Anekdoten aus der Szene, die in Interviews oder Biografien längst dokumentiert sind, in kompakter Form neu. Doch der Versuch, ein fundamentales Werk von biblischem Ausmaß zu schaffen, scheitert grandios. Am Ende bleibt der Eindruck eines amüsanten, aber oberflächlichen Streifzugs durch eine sehr selektive Version der Metal-Welt – einer Version, die eher von Nostalgie deutscher Metalfans der 80er als von einem umfassenden Blick geprägt ist.

Wer also zur nächsten RAGE-Tour beim Kiosk nebenan sein Ticket wie die letzten 30 Jahre auch in bar bezahlt, die Kutte schonmal warmsäuft und beim achten Bier an sein siebzehntes Konzert von TESTAMENT gestern Abend zurückdenkt, mag "66,6 Metal Stories" als unterhaltsame und bestätigende Lektüre wahrnehmen. Wer auf einen ganzheitlichen Blick auf die Metal-Kultur hofft, wird dieses Buch wohl zuklappen und denken: Da wäre mehr drin gewesen.

Jakob

Ende der 90er war ich auf einmal da und entdeckte bald die Genesis- und Rolling-Stones-Platten meines Vaters.  Mit 11 fand ich entdeckte ich Metal, seitdem halten meine Eltern das für eine Phase, sind aber trotzdem stolz. 

Anmerkungen und Empfehlungen, Lob und Drohbriefe, Kochrezepte und Sonstiges: gerne per Instagram an jackl_p ;-)

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