Zehn Jahre ist es her, dass NOTHING MORE aus Texas mit ihrem selbstbetitelten Album endgültig mindestens meine eigene Welt des Alternative Metal auf den Kopf gestellt haben. Damals fiel die Combo um den charmanten Fronter Johnny Hawkins vor allem durch dessen markante Stimme und fabelhafte Bühnenpräsenz auf, garniert von brillanter Gitarrenarbeit, die so gar nichts mit herkömmlichem Songwriting im Metal zu tun haben wollte. Und bei aller Abgefahrenheit haben sie dabei noch gleich mehrere Hits hinterlassen. Die Jungs haben sich ihren eigenen unverkennbaren Stil geschaffen, der sich mit jedem Album weiterentwickelte – "The Stories We Tell Ourselves" war ausgefallener, "Spirits" legte eine Schippe Schwermetall obendrauf.
Nun liegt das neue Album "Carnal" vor, das irgendwie das Beste aus allen Welten dieser Band aufgreift und im Gegensatz zum Vorgänger wieder nur so strotzt vor hitverdächtigen Nummern, allerdings auch glattgebügelter daherkommt. Es wird düster und geheimnisvoll, melancholisch und emotional, brachial und übermächtig. Vor allem aber lässt es mich immer wieder die Lauter-Taste betätigen, und ich kann seit Release nicht mehr ohne Dauerschleife.
Dass eine solche Mischung funktioniert, liegt gewiss auch daran, dass das ganze Album durch hervorragende Transitions, vier davon als eigener Song gekennzeichnet, im "Flow" bleibt. Das wird im Sinne eines Konzeptalbums auch textlich mehrfach hervorgehoben. Wir haben es also nicht nur mit einer Aneinanderreihung von Songs, sondern einem sehr stimmigen Arrangement sorgfältig neben- und füreinander produzierter Songs zu tun.
Studio Traffic, Studio Magic
Auch haben sich die Herrschaften hochkarätige Gastsänger ins Studio bestellt: Für den Albumauftakt "House On Sand" holte man sich mit Eric von I PREVAIL einen weiteren Lockenschopf ans Mikro, der dem ohnehin schon heftigen Riff-Gewitter nochmal etwas Extra-Spice verpasst, und für "Angel Song" betrat mit David Draiman von DISTURBED ein echter Superstar des Metal die Gesangskabine. Allerdings verließ der wohl nicht das Studio, ohne gleich dem ganzen Song den unverkennbaren Stempel seiner eigenen Band aufzudrücken.
Glücklicherweise tragen alle anderen Songs ausnahmslos den unverwechselbaren NOTHING MORE-Sound, mal im schweren Gewand ("Existential Dread"), mal im lockeren Uptempo-Groove ("Blame it on the Drugs"), mal mit Akustikgitarren und Stadionrock-Allüren ("Down The River"). Wer sich an Johnnys Live-Auftritte am postapokalyptischen Monster-Synthesizer auf vergangenen Tourneen erinnert, kommt bei allerlei abgefahrenen Breaks und technischen Spielereien ebenfalls auf seine Kosten. Dabei ist die Produktion stets so ausgefeilt, dass sämtliche weiteren Klangfarben wunderbar mit den vier Kerninstrumenten der Band harmonieren. Allerdings ist das Album an dieser Stelle deutlich weniger komplex als seine Vorgänger, was sich sicherlich einiger Kritik wird stellen müssen.
Für "Stuck" holte man sich dann mit SINIZTER jemanden aus ganz anderen Genre-Gefilden ins Boot, doch das Feature aus dem Industrial-Rap steht dem Album ausgesprochen gut, die Klangfarben der beiden Herren am Mikro ergänzen sich wunderbar, gerade weil beide so herrlich wütend-kreischende Screams herausbringen können. Die Melodien sind durchweg hittauglich und eingängig, unübertroffenes Highlight bleibt allerdings das längst zum Hit gewordene "If It Doesn't Hurt". Das Ding kombiniert einfach alles absolut perfekt: gewaltige Riffs, miese Breakdowns, fiese Screams, brillante Vocals und tiefe Lyrics mit großartigen, mitreißenden Melodien. Wer sich die Essenz dieses Albums vergegenwärtigen möchte, findet sie hier.
NOTHING MORE bleiben also weitgehend ihrer Linie treu: "Carnal" ist irgendwie die logische Konsequenz aus "Spirits", das künstlerisch hervorragend, aber doch weniger radiotauglich war. Dass das dabei nicht wirklich als Sellout rüberkommt, sondern eher als Resultat jahrelanger Erfahrung, musikalischer Reife und einer seit dem Durchbruch unveränderten Besetzung vier großartiger Künstler, ist ebenso bemerkenswert – das Album wirkt insgesamt sehr natürlich und angehehm stimmig.
... ein paar Genusstipps zum Abschluss
Man möchte es genießen wie einen vielschichtigen, kraftvollen und emotionalen Rotwein, der so dunkel, geheimnisvoll und brachial ist wie das Album selbst. Mir schwebt dabei ein gut gelagerter 2014er Côte-Rôtie mit tiefen Aromen dunkler Früchte, schwarzem Pfeffer und einem Hauch Tabakrauch vor, mit markanter Säure und kräftigen Gerbstoffen. Herrlich rund mit bemerkenswert reichem Körper, der so schwer und introspektiv wie die tiefste Lebenskrise und so facettenreich und aufregend wie eine Nacht im Moderne-Kunst-Museum mit langem und fulminantem Abgang, der nur Lust auf mehr macht. Dazu reiche man ein Arrangement aus schwarzen Oliven und dunkler Schokolade sowie eine Auswahl bekömmlicher Käsespezialitäten wie gereiftem Cheddar, Roquefort und etwas Manchego.
Tracklist:
| CARNAL |
HOUSE ON SAND (Feat. Eric V. of I Prevail)
IF IT DOESN'T HURT
ANGEL SONG (Feat. David Draiman)
FREEFALL
BLAME IT ON THE DRUGS
| HEAD |
EXISTENTIAL DREAD
| HEART |
DOWN THE RIVER
GIVE IT TIME
| SIGHT |
STUCK (Feat. Sinizter)
RUN FOR YOUR LIFE
| SOUND |