Können STAIND schlechte Alben veröffentlichen? Man kann sie als Heulsusen-Rocker abstempeln, aber schlechte Musiker sind sie beileibe nicht. Auch wenn STAIND gerne sagen, sie würden Fortschritt und Entwicklung ihrer Musik Vorrang vor kommerziellem Erfolg geben – am Ende lieben es die Fans und die Kasse klingelt. Mainstream ist nichts, vor was man weglaufen müsste, und 12 Millionen weltweit verkaufte Platten haben aus Aaron Lewis und seinen drei Mitmusikern keine eierlosen Schmuserocker gemacht. Ein wenig innovationsfern klingen sie, das lasse ich gelten, aber gelangweilt habe ich mich bisher bei keiner Platte. Und genau so verhält es sich auch mit „The Illusion Of Progess“, bei der der Titel schon mal die Marschrichtung vorgibt: Echten Fortschritt finden wir nicht, aber erstklassige Rock-Songs aus dem Hause STAIND. Nichts, was ich nicht erwartet hätte.
Und so lässt sich zu der sechsten Platte auch nicht viel Besonderes sagen, außer: STAIND ist es gelungen, die vielleicht homogenste Scheibe ihrer Karriere zu veröffentlichen, voller nachdenklicher Song-Perlen, die jede für sich fast ausnahmslos als (Radio-) Singles herhalten könnten. Ich finde keinen echten Hänger auf „The Illusion Of Progress“, auch wenn manche Titel so vorhersehbar daherkommen, als hätten wir es mit NICKELBACK zu tun, auch lyrisch streift man teilweise sehr seichte Gefilde. Richtig abgeturnt hat mich aber nur der aufdringliche, weibliche Backgrund-Gesang bei „The Corner“.
Aber, und darauf läuft letztlich alles hinaus, STAIND schreiben nach wie vor einfach großartige Songs: Sanft groovend bis impulsiv, emotional, tief nachdenklich und gespickt mit Widerhaken für die Gehörgänge. Dazu kommt der sehr kräftige, atmende Sound, der dieses Mal durch die Nutzung von Vintage-Equipment enstand. STAIND ließen damit ein wenig Blues aufflackern, etwas Country und vorsichtig auch Elektrosounds, wobei alles sehr ausgeglichen arrangiert wurde – richtig harte Ausbrecher wie zu Zeiten von „Dysfunction“ gehören endgültig der Vergangenheit an. Konnte man sich auf dem Vorgänger „Chapter V“ noch nicht ganz zwischen hart und zart entscheiden, ist das Urteil heute recht eindeutig gesprochen: Zart, wenn auch mit Bumms, aber nicht mehr aggressiv. Man habe sich unter anderem etwas an PINK FLOYD orientiert, hieß es im Vorfeld der Veröffentlichung. In der Tat, und die flüchtig-progressiven Gitarrenlinien passen hervorragend zu den jeweiligen Songs.
„The Illusion Of Progress“ ist für mich die beste Scheibe aus dem Hause STAIND seit „Break The Cycle“ – denn mit ihr hat die Band in meinen Augen wieder zu sich selbst gefunden, nachdem ein paar Jahre nicht ganz klar war, wohin die Reise gehen soll. Dass die heutigen STAIND dabei nicht mehr so angriffslustig klingen wie zu ihren Anfängen – geschenkt. Wir werden alle älter.