Fett, mit Seele und mitten in die Fresse
So einen Sound traut sich heutzutage niemand mehr. Cam Cole macht das einfach. Schmutzige Licks und viel Slide-Guitar, eine Base, die voll in den Magen geht, individuelles Timing, völlig verhallter Joghurt-Becher-Vocal-Sound als Stilmittel, eine filigrane Stimme zum dreckigen Punk-Rock. Einfach schön!
Mit der Scheibe bin ich zurückgebeamt in die frühsten 1990er Jahre, zwischen NIRVANAs „Bleach“ und dem ersten Album von RAGE AGAINST THE MACHINE. Doch die Wut wird durch die Stimme und Texte mehr zu einem spirituellen Erlebnis. Somit entsteht eine Spannung zwischen gewaltig wütenden Beats für den Bauch und philosophischen Statements für den Kopf. Es funktioniert.
Eine Band – eine Person
Cam Cole ist ein Busker der hohen Schule. Egal wo, mit seinem Set aus Schlagwerk, Gitarre und Stimme nimmt er die Straße für sich ein. Wer ihn sieht, wird einfach magnetisch angezogen. Energie und Liebe für das, was er tut, wird mit jedem Ton verströmt. Diesen Weg beschreitet Cam Cole schon eine ganze Zeit und verbreitet damit Freude und Zusammenhalt (siehe auch das Interview vom Juni 2020).
Crooked Hill
Doch das musikalische Konzept funktioniert nicht nur live, wie so oft bei Straßenbands. Er schafft es, durch gute Produktionen Atmosphäre auch über Tracks und Alben zu verbreiten. Dabei wird viel Wert darauf gelegt, Cam Cole nicht in Spuren aufzudröseln. Der Hörer spürt, dass er irgendwo im Studio auf sein Set eindrischt und dabei singt. Sicherlich können bei Studio-Alben einige technische Kniffe und Zusatzspuren genutzt werden, doch diese sind wie Gewürze in gutem Essen so fein dosiert, dass sie nicht herausstechen, aber den Horizont das Gesamterlebnisses erweitert.
Sehr schön ist das Schlagwerk abgenommen worden. Dies hilft dabei, den massiven und vollen Eindruck des Albums zu transportieren. Die Gitarren – es sind mindestens eine Solid-Body und eine alte akustische ¾ Gitarre in den unterschiedlichen Songs zu hören – sind schön crisp, scharf und dennoch fett abgenommen. Die Stimme ist ein wenig „englisch“ gemastert und mir – außerhalb der Joghurt-Becher-Stimme (ich mag das Stil-Element, aber als Autor braucht man einen markigen Ausruck) – etwas zu leise.
Denn das ist die einzige Kritik, die man einer Ein-Mann-Band eingestehen muss: Die Wandelbarkeit in den einzelnen Tracks ist begrenzt. So treibend auch die Beats sind, so wichtig ist auch die Stimme, die öfter etwas weiter über den Dingen stehen dürfte. In Sachen Wandelbarkeit muss jedoch auch gesagt werden, dass Cam Cole auch ein paar ruhigere Tracks im Gepäck hat, wobei der sechste Track „Now That We’re Here“ sogar als Ballade bezeichnet werden könnte.
Ansonsten mache ich kein Walk-Through, da sich alle Songs lohnen. Meine Anspieltipps sind die ersten drei Tracks „Albion“, „Commercial People“, „Steam“ hintereinander weg, da sie die Bandbreite von Cam Cole eindrucksvoll darstellen.
Cam und Corona
Momentum ist das Zauberwort. Anfang 2020 lag genau dieses Momentum auf Cam Coles Seite. Er löste sich von den Straßen-Gigs. Das erste Studio Album ging ab. Millionen Views auf YouTube und vielen Social-Media-Kanälen drängten geradezu darauf, dass es nun von der Straße auf die Bühnen der Welt geht … und Zack; Lock-Down.
Eigentlich der Killer für so eine aufkeimende Zuhörerschaft. Doch durch gut konzeptionierte Multi-Media-Präsenz und Streaming-Konzerte – und nicht zuletzt durch die für den Golden Globe nominierte Apple-TV Serie „Ted Lasso“, in der er mitspielte – hielt nicht nur die Zuhörerschaft, sondern verdoppelte sich sogar. Über den dicken Daumen 200.000 Follower bei Facebook, 100.000 auf YouTube, 50.000 auf Instagram und 4 Millionen Streams auf Spotify ist schon eine Basis, mit der nun Europa und mehr geentert werden können.
Es stehen diverse Konzerte in England an und hoffentlich sieht man ihn dann sehr bald auf den Bühnen auch bei uns. Ich möchte ihn gerne nächstes Jahr auf dem genialen Kleinfestival „Wilwarin“ und danach als Newcomer in Wacken sehen. Macht das mal klar.
Release-Konzert auf YouTube
Ach ja: Wer Cam Cole erst einmal kennenlernen möchte, hat die Möglichkeit, sich das Konzert „Summer Solstice '21 (Live at Avebury)“ vom Release Day des neuen Albums hier anzusehen:
"Crooked Hill" Tracklist:
1. Albion
2. Commercial People
3. Steam
4. I Don’t Need To Live Your Way
5. High
6. Now That We’re Here
7. Fear N’Wrath
8. Awareness
9. Heavy
10. Regret
11. Message In The Mountains
12. F### You Motherf#####
Alle Fotos © by Neil Lupin