Geschrieben von dirk-bengt Dienstag, 24 August 2010 21:42
Árstíðir lífsins - Jötunheima Dolgferð Tipp
Stil (Spielzeit): Black Metal / Folk / Ambient (1:10:14)
Label/Vertrieb (VÖ): Ván Records (08.10.10)
Bewertung: 10 / 10
Link: Home / Myspace
Ein Meisterwerk! Nach einer Handvoll Akkorden auf MySpace stand eigentlich schon fest: Eines jener seltenen Wunderwerke, in die man sich auf den ersten Blick verliebt und mit Sicherheit und Recht weiß: auch nach tausend Umläufen wird diese Schönheit so reizvoll sein wie am ersten Tag.
Flugs die internen „Besprechungsrechte“ gesichert; während des Runterladens einen eisgekühlten Gin-Tonic bereitet, Kopfhörer auf, Regler auf Maximum, zurückgelehnt und... „BANG!!!“... Mindfucked!...
ÁRSTÍÐIR LÍFSINS (Die Jahreszeiten des Lebens) ist auf Zweierlei zurückzuführen: auf Stefán (der Holsteiner Avandgarde Paganisten KERBENOK; da ohne Akzent) hier zuständig für Gitarre / Gesang / Piano / Vibraphon/ Chor) und sein Interesse für alte isländische Geschichte.
Unterstützung gab’s vor allem von Árni (ehemals DYSTHYMIA, heute u.a. SKENNDÖD, hier zuständig für Drums, Violine, Chor). Außerdem halfen diverse Leute im Chor und bei den Solostimmen. U.a. Lorettá (ich vermute dieselbe Dame, die gelegentlich KERBENOK bereichert), Marcel von HELRUNAR, Blutaar von DRAUTRAN und drei Leuten des Háskólakórinn, dem Hochschulchor Islands. Deren Hilfe bei den zahlreichen altisländisch inspirierten Chören war sicher beträchtlich. Außerdem war noch ein gewisser Sveinn für Keyboards & Effekte zuständig. Würde mich wundern, wenn das jemand anderes als der Labelchef und Ex-NAGELFAR-Basser höchstselbst war...
Die Geschichten aus der Besiedelung Islands, die hier erzählt werden, stützen sich wohl auf das altisländische Landnámabók; vermute ich mal. Entstanden in Reykjavik in den Jahren 08/09, schafft „Jötunheima Dolgferð“ das Kunststück, in intelligenten Pagan Black Metal echte archaische Magie einzulassen. Beides zu einem eigenständigen Werk „aus einem Guss“ zu verschmelzen, wie das Promo-Sheet bescheiden verkündet. Aus einem Guss, aber abwechslungsreich, abwechslungsreich, abwechslungsreich…
1.) „Ísa brots blómin milli hnignunar Marnars barna“ ist ein leider nur gut 1-minütiges Intro, bei dem Árni mit einer wunderschönen, todtraurigen Violinenmelodie nicht nur hervorragend einstimmt, sondern zugleich noch mal Werbung für seinen eigenen Projekte macht.
2.) „Morgunn í grárri vindhjálmars þoku við Berufjörð“ beginnt erhaben; eine dunkle Stimme erzählt stimmungsvoll so allerlei – pathetisch gestützt von Drums, Chor und Synthies – bis ein feines Black Metal Inferno die getragene Atmosphäre zerstört. Das Tempo wird angezogen, gedrosselt, angezogen, gedrosselt… und ohne dass das schwarze Metal stumpf wird, kehren das Majästetische und die Klarstimme zurück. Immer wieder ändert sich der Charakter des Stücks. Um Nuancen. Die Basis bleibt die gleiche: kraftvoller, majestätischer Heidenstahl. Acht Minuten großartigstes Kopfkino. Komplex, authentisch. Danke. So, glaube ich, würden die Heiden alle gern klingen, die ihre metallischen Wurzeln im Black Metal haben.
3.) Dachte ich noch, die facettenreiche Stimmung und exquisite Dramaturgie von „IbbmhMb“ wäre nicht zu steigern, spielt sich die deutsch-isländische Kooperation mit „Velkomin í lífið, ávarpar maðr sjálfan sig“ endgültig in meinen musikalischen Götterhimmel.
Dass in den 12:41 min romantisches Piano, Akustik-Gitarre und weiblicher Gesang zeitweise ein Ambiente von Neo-Klasik, Neo-Folk verbreiteen, und damit der übliche pagane Rahmen aus Archaik und Black Metal massiv gedehnt wird, mag mutig erscheinen. Ist es aber nicht! Das gehört genau so dahin! Es erweitert das Farbspektrum beträchtlich und ÁL muss das Heil nicht in kitschigen Melodien suchen. Akustisch pendelt das Stück kurz vor der 13min-Marke aus.
Und wieder fällt auf, wie wichtig der Sprechgesang ist. Andernorts nur Ausweis für „Nicht-singen-können“ brauchen wir den hier, um den narrativen Charakter der Stücke zu wahren. Nur so kann man vielleicht erfühlen, wovon die Rede ist.
4.) Brachial reisst „Haka kleifir berja ok brjóta við enda langrar ferðar sinnar“ (derzeit auf MySpace) mich aus der akustischen Träumerei. Auch hier wird das Gas gelegentlich zugunsten majästetischer Atmosphären zurückgenommen, aber die etwas mehr als 5min werden grundsätzlich besser mit „flott“ charakterisiert. Aber selbst, wenn das Tempo hoch ist, ist es nicht gleichbleibend. Was flott ist, wird zur Raserei, die Raserei, kommt ins Stocken, um wieder Fahrt aufzunehmen. Es wird kunstvoll variiert, statt stur wie eine Maschine durchgetaktet zu sein. Erstaunlich wie differenziert geballert und gescreamt werden kann…
5.) Halbzeit mit „Lifðu með öðrum, með þínum eigin“. Gleichfalls recht schnell, startet es besinnlich. Akustisch. Leichte Brandung daruntergelegt, leise Möwen. Als es richtig losgeht mit Klargesang, erstmal Mid-Tempo. Pathetisch. Irgendwann kommt Doublebass dazu, das Stück nimmt mehr Fahrt auf, ohne den hymnischen Charakter einzubüßen. Über die Chöre legt sich ein zunächst kaum vernehmliches Flüstern. Als die Hymne langsam ausgeblendet wird, entpuppt sich das Flüstern als Beschwörung Freyas (glaube ich). Klasse gemacht.
6.) „Eigi hefr á augu, unnskíðs komit síðan“ fällt aus dem Rahmen. Und irgendwie auch nicht. Es ist anders, weil es 1.) A capella ist und 2.) in seinen fast 8 Minuten trotz des zeitweisen Wechselspiels aus Solostimme und Chor einer -- aufs Album gemünzt -- ungewohnten Monotonie gehorcht. Was in anderem Rahmen sicher nur ein zwei, maximal dreiminütiges Intermezzo geblieben wäre, muss hier genauso sein. Der Skalde erzählt in einer kaum variierten Tonfolge eine Geschichte. Der Chor ergänzt, erläutert, was-weiß-ich. In derselben Tonfolge. Ich versteh natürlich kein Wort, aber bin gefesselt. Wähne mich in einem der mit Grassoden gedeckten, verrauchten Langäuser Islands und erfahre wie Eiríkr rauði seinen Nachbarn erschlagen hat, weil der ihm immer Müll über Zaun warf. Oder halt was ganz anderes. Einige Hintergrundgeräusche (Knistern von Feuer, Gelächter, Gesprächsfetzen, kurz Tumult) verstärken den Eindruck. Zeitflucht at its best. Sicher das authentischste Stück; vordergründig. Aber es spricht für das Album, dass es kein Fremdkörper ist, sondern sich völlig nahtlos ins Gesamtkonzept einfügt.
7.) Mit den schleppenden Eröffnungsriffs von „Margt breytist fyrir orð völvanna“ geht es weiter; das Stück wird wesentlich (bis Minute 7) Midtempo bleiben. Aber wie bei den schnelleren Stücken: Auffällig, wie filigran am Gashahn gedreht wird. Nur Nuancen. So bleiben die Stücke ganz und werden nicht von abrupten Tempowechseln zerschossen. Und Langeweile kommt so trotzdem nicht auf. Das Letzte Drittel des Stücks wird von einer kurzen Violinepassage und Sprechgesang eingeläutet. Dann brechen die Dämme... Es rappelt mächtig in der Bude, um irgendwann wieder die Kurve zu nehmen und in einer feierlichen Passage auszulaufen…
8.) „Við fundum nýtt heimili, langt burtu í vestrinu“ bleibt zunächst in feierlicher Stimmung, es folgen ein paar durchaus „modernistische“, dezent schräge Licks, die mich erstmals (und nur kurz) an den Avantgardismus’ KERBENOKS denken lassen. Es folgt Stakkato-Gemetzel mit diversen Schreigesängen zwischen Aggression & Hysterie. Tempo kurz raus. Atemholen. Weitermetzeln. Und bei der Hälfte leitet eine gekonnte Bridge in den ruhigen Teil über… Irgendwer ruft was, und auf einen langsamen Beat mit dezent vor sich hinsägenden Riffs legt sich die melancholische Violine... Aaacchh ist das geil! Und während der Skalde das Ruder übernimmt, wird das Stück Stück für Stück immer spärlicher instrumentiert bis es allmählich verklingt…
9) „Þat er stormr ok bláköld vatnssmíðin litar regna borg“ ist als letztes und zweitlängstes Stück prädestiniert, die Stärken des Albums zu resümieren. Was es denn auch tut. Hier ist alles noch mal versammelt: Gemetzel und treibende oder getragene Midtempo-Passagen, und auch die ganz stillen Klänge (hier mit Vibraphon oder einem traurigen, PINK FLOYD-artigen Bass), die Violine darf wieder ran, Lorettá auch, majästetische Chöre wie sie das ganze Album durchzogen haben sowieso. Und in Sachen Dramaturgie ist das wieder ganz breitwandiges Kino.
Fazit: Eigentlich bin ja Skeptiker, was die musikalische Vermittelbarkeit (mittel)alter Kulturen durch (Pagan) Black Metal angeht. Ich vertraue da für gewöhnlich weit eher auf WARDRUNAs Magie oder dem puren Folk von SKYFORGERs „Zobena Dziesma“ u.ä.
Aber mit „Jötunheima dolgferð“ wird im Pagan Black Metal schlichtweg ein völlig neuer Maßstab gesetzt. Obwohl die Genregrenzen nur gedehnt und nicht gesprengt werden. Aber sie werden mächtig gedehnt… Dass dies gelingt, ohne groß auf altertümliche Instrumente (abgesehen von der Bodhrán, einer Ziegenfelltrommel) zurückzugreifen, macht das Ergebnis nur noch erstaunlicher.
Das mit Abstand beste Album des gesamten Genres, das mir bislang untergekommen ist. Authentisch, feinsinnig, aber tragfähig komponiert und mit einem dramatischen Konzept ausgestattet, das von einem enormen Verständnis des Themas zeugt; und, völlig unabhängig vom Thema, musikalisch einfach begeistert. Bleibt zu hoffen, dass das kein einmaliges Experiment war…
Für den adäquaten Sound zeichnete übrigens wie zuletzt bei den KERBENOK-Kumpels von VALBORG Tom Kvålsvoll verantwortlich. Und die liebevolle Aufmachung ist, wie bei so vielen Ván-Releases ein zusätzlicher, wenngleich hier unnötiger Kaufanreiz....
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Nachtrag, um keine Gerüchte in die Welt zu setzen: Wie Sven Dinninghoff a.k.a. SVEINN mir per Mail mitteilte, ist er "(zum großen Glück aller Beteiligten und potenzieller Hörerschaft) nicht für die Keys verantwortlich"... Wer jener ominöse Sveinn an den Tasten aber ist, bleibt rätselhaft... wir werden das, wie manch anderes, in einem Interview mit Stefan zu klären versuchen.