Helangår - [kwIn’ tes sens]


Stil (Spielzeit): Avantgarde Metal (46:00)
Label/Vertrieb (VÖ): Eigenproduktion (28.03.08)
Bewertung: 7,5 / 10
Link: http://www.deepbeyond.net/helangar

HELANGÅR… stand im Verteiler. Der Name riecht intensivst nach Hörner-Metal. Dann wäre ich ja der Richtige, da ich aber ohnehin zwangsrekrutiert wurde, ist das auch egal. Gegen paganen Kram spricht allerdings der Albumtitel: [kwIn’ tes sens]. Zumindest in dieser Skription. Jedenfalls kenn’ ich HELANGÅR bislang nicht und lasse mich mal überraschen.

Überraschung geglückt, das mal vorweg.

Kein paganes Wikingergejohle, obwohl das Promo-Sheet von einem Debüt namens „Evening in Valhalla“ spricht, was die erste Vermutung nicht völlig absurd scheinen lässt. --- Aber schon das Zweitwerk dieser Söhne Mannheims scheint einen intellektuellen Reifeprozess anzudeuten, wenn man allein nach den Albumtiteln geht: Es war die gleichnamige Vertonung von R. Schneider’s Bestseller „Schlafes Bruder“.

Und nun also die Frage nach der Quintessenz. Damit erobert man thematisch endgültig das philosophische Schlachtfeld für sich. Herzlich Willkommen also beim philosophischen Duett der Gebrüder Fuß:
„[kwIn’ tes sens]“ ist nicht als Elaborat der Unterhaltungsindustrie zu verstehen, sondern als Kunstwerk. Zumindest erweckt es den Eindruck, einen Anspruch auf Anspruch zu erheben.

„[kwIn’ tes sens]“ versteht sich als Reaktion auf die Situation des Menschen in der (Post-) Moderne. Man rekurriert zur Erklärung auf einige Meilensteine der Wissenschaftsgeschichte: Kopernikus, Darwin, Freud und eine der Folgen ihrer Entdeckungen / Theorien. Und da wäre die Atomisierung des Einzelnen zu diagnostizieren. Man weiß sich bei HELANGÅR also mit Adorno u.a. einig. „Und“ Zitat, „diese atomisierten Massen fragen: Was bleibt? – Was ist die [kwIn’ tes sens]?“

Der Anspruch von HELANGÅR dürfte es nicht sein, diese Frage zu beantworten, sondern sie auf verschiedene Weise zu stellen und zum Klingen zu bringen. Aber auch das ist nicht gerade wenig.

Musikalisch halte ich das für streckenweise erstaunlich gut geglückt. Fangen wir aber mit dem Negativen an:

Textuell gelangt man selten über den Philo-Grundkurs und über die Tagebuchergüsse zukünftiger Germanistikstudentinnen nach einer Überdosis Kafka hinaus. --- Das fängt harmlos bei der deplacierten Verwendung antiquierter Ausdrücke wie „hinfort“ an, geht über naive Apelle bis hin zu blümerant-schwülstigen Peinlichkeiten.
(Nur mal so als ein Beispiel:) Zitat aus „Was ble!bt“:

„Gebt mir Frieden, gebt mir Antwort! Was ist das, die Welt? Was ist das, die Zeit? Tod – Wo ist dein Ziel? Tod – ich beuge nicht! Drei Monde sah einer dunkeln, dessen Antwort war zu klein, seit uns die Welt gebiert, gibt uns das Nichts Gewissheit – alles Schein…“ usw. usf.
„Drei Monde dunkeln“ zu lassen geht im 21. Jahrhundert für Gothic-Kitsch in Ordnung. Für ein Kunstwerk mit Anspruch aber nicht.

Mit derlei pathetischem Schwulst entziehen die beiden der fundamentalen Frage nach dem Wesen von allem, der nach der quinta essentia, ihre Dringlichkeit.

Womit wir bei dem einzigen Manko in musikalischer Hinsicht wären: der Klargesang ist häufiger mal nicht weniger schwülstig und ungelenkig als das Pathos der Lyrik. Zum Glück aber dominiert über weite Strecken (manchmal mehrstimmig, gerne auch technisch verzerrt) aggressives Shouting in verschieden Tonlagen. Ein bisschen wie deutscher Punk, ein bisschen mehr wie skandinavischer Death. Da wird das Anliegen entschieden glaubwürdiger vorgebracht.

Richtig feist aber ist die Instrumentenabteilung. Die Gitarren decken zwischen schmerzlicher Sehnsucht und aggressiver Anklage alles ab. Da sind Death-, Doom-, Prog- und diverse andere Metal-Stile auszumachen. Jazzige Themen brechen aus dem metallischen Korsett immer wieder aus und bescheren auch so manch notwendige Disharmonie. Und situativ geht’s auch mal in Richtung der Klangexperimente der NEUBAUTEN. Wem die zu „industrial“ oder zu punkig sind, sollte sich hieran mal versuchen. --- Oder es fönt das Key auch mal im gothischen Typ-O-Stil. Oderoderoder. Im Detail ist viel Filigranes zu entdecken. Das bewegt sich zwar nicht durchgängig, aber auch schon mal auf Opeth-Niveau.

Dass die Songs beim eklektizistischen Genrehopping etwas unschlüssig wirken… eher wie Soundcollagen, wäre zwar prinzipiell vermeidbar (was sich am Beispiel des Post-Metals von ISIS belegen ließe), aber diese Unschlüssigkeit ist hier m. E. durchaus gewollt und im Rahmen des künstlerischen Konzepts auch notwendig. --- Wie soll man die Zerrüttung und Verzweiflung der atomisierten Individuen adäquat transportieren, wenn man sich exklusiv in Strophe-Refrain-Schemata bewegt und dem Hörer mit harmonischem Juppheida den informationsgefluteten Bregen ver-dichtet?

Klar also, dass HELANGÅRs dritter Release weder das Richtige ist, um beim nächsten Schützenfest das Bierzelt zum Beben zu bringen, noch um sich bei Kerzenschein aus der inneren Isolation zu träumen.
Stattdessen kriegt man einen musikalischen Abenteuerurlaub angeboten, der zum Nach-Denken anregen könnte. Ein eher intellektuelles Vergnügen also, wobei sich schnell die Frage aufdrängt, ob man dafür nicht besser auf Literatur zurückgreift?! – Jedenfalls werde ich zur Erörterung der gestellten Frage auch zukünftig eher auf die Gedanken Hegels oder Heideggers als auf die Klänge HELANGÅRs zurückgreifen.

Fazit: Der von mir (vielleicht fälschlich) unterstellte künstlerisch-philosophische Anspruch wird textlich definitiv nicht eingelöst. Musikalisch weit eher, auch wenn das phasenweise sehr hohe Niveau von besagten Schwächen massiv unterlaufen wird. So bleibt man der unteren Überdurchschnittlichkeit verhaftet. Ein großartiges, gar geniales Album ist es nicht geworden. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass der Reifeprozess noch längst nicht seinen Höhepunkt erreicht hat. Und so freue mich schon etwas auf den nächsten Versuch: wenn HELANGÅR „Sein und Zeit“ oder die Heisenbergsche Unschärferelation vertonen.