Musikalisch alles beim Alten?
AYREON fallen im weitesten Sinne in die Kategorie "Kennst du ein Album, kennst du die gesamte Band". Und selbst einem Genie wie Arjen Lucassen passieren (selten) Missgeschicke wie "The Theory Of Everything", das zu gewollt und zu Keyboard-lastig klang. Die spannende Frage lautet also: Besinnt sich der Halbriese auf seine Stärken? Verändert er den AYREON-Sound grundlegend?
Die Antworten: Ja. Und nein. Das musikalische Gerüst bleibt weitgehend unverändert: Progressiver Rock/Metal trifft auf leichtfüßigen Folk, Ambient und Classic Rock. "The Source" ist gitarrenorientierter, härter und geradliniger als frühere Werke (vor allem als der direkte Vorgänger). Gut zu hören ist das im 12-minütigen Opener "The Day The World Breaks Down", den mittlerweile jeder AYREON-Fan in- und auswendig kennt, oder "Star Of Sirrah". Hier rifft Lucassen so hart und packend wie nie zuvor.
Dennoch – und das ist das Großartige an "The Source" – ist die musikalische Ausrichtung noch abwechslungsreicher als in der Vergangenheit. Eine entspannte Blues-Passage nach harten Riffs? Sicher doch. Growls in "Everybody Dies" mit seinen fröhlichen Keyboards? Na klar. BLIND GUARDIAN-artiger Power Metal in "Planet Y Is Alive", gefolgt von Ambient-Klängen in "The Source Will Flow"? Geht! Ein arabisches Gebet mitten im straighten "Deathcry Of A Race", gefolgt von Opern-Vocals? Wieso nicht?
Nicht nur die einzelnen Songs unterscheiden sich stilistisch voneinander, auch innerhalb der Nummern macht Lucassen, was ihm gefällt, ohne das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Und es passt. Immer. Zu jeder Sekunde. Jeder warme Flötenton schwebt genau da, wo er hin gehört. Jede gezupfte Saite hat ihre Bedeutung. Jede düstere Keyboard-Passage sitzt an ihrem Platz. Und doch funktionieren alle Songs auch für sich betrachtet – abgesehen vielleicht von den letzten Nummern im Grande Finale, die zu eng miteinander verbunden sind.
Arjen Lucassen legt in erster Linie Wert auf seine Musik, wie er selbst sagt. Die Texte sind erst einmal Beiwerk. Das wird "The Source" nicht ganz gerecht, doch eine andere Einstellung würde vermutlich nicht zu solch großartigen, detailverliebten Ohrwürmern führen, die kaum jemand so passgenau komponieren kann, wie der Holländer. Lucassen komponiert songdienlich. Obwohl sie ihre volle Wirkung im 82-minütigen Gesamtzusammenhang unterm Kopfhörer entfalten, funktionieren die Tracks auch einzeln. Lucassen schafft, woran DREAM THEATER mit "The Astonishing" gescheitert sind.
"The Source" ist ein Album aus einem Guss. Es fließt. Die Sänger transportieren die verschiedenen Stimmungen – egal ob verzweifelt, nachdenklich oder zuversichtlich – zu einhundert Prozent, sie gehen völlig in ihren Rollen auf. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Besser geht es nicht.
Spannende Story im AYREON-Universum
Trotz Arjens Ansage (das Wichtigste ist die Musik) sind die Texte auf einer AYREON-Scheibe immer ein wesentlicher Bestandteil der Schöpfung. Kann man die Geschichte, die hier erzählt wird, auf ein paar Sätze runterbrechen? Versuchen wir es einmal in aller Kürze:
Vor Millionen vor Jahren stehen die Vorgänger der Menschen auf dem Planeten Alpha vor der Katastrophe. Ein mächtiger Computer, der Probleme in Umwelt und Wirtschaft lösen soll, sieht den einzigen Ausweg in der Auslöschung der Menschheit. Zehn Auserwählte machen sich mit dem Raumschiff "Starblade" auf den langen Weg zu einer neuen Heimat, auf der sie ohne Computer neu beginnen wollen. Es ist eine Geschichte voller Verzweiflung, Zerstörung, Schuld, Gleichgültigkeit, Hoffnung – und erneutem Grauen.
Ich empfehle, "The Source" zuerst völlig unvoreingenommen komplett durchzuhören, auf die Lyrics und Stimmungen zu achten, und danach den englischen Wikipedia-Artikel zu "The Source" zu lesen (Achtung: Spoilergefahr!). Die Storyline wirkt dadurch klarer, mit dem nötigen Hintergrundwissen werden die Geschichte, die Gefühle und Motive der Charaktere noch greifbarer. Und spätestens dann machen selbst leichte Veränderungen in den Stimmungen und vorher abstrakte Aussagen plötzlich Sinn – und sorgen am Ende der Story für eine dicke Gänsehaut, wenn die Brücke zu "01011001" geschlagen wird. Beim Erkunden des AYREON-Universums helfen außerdem die einleitenden Worte sowie die liebevollen Skizzen und das wunderschöne Artwork im Booklet, das besonders als Earbook einiges hermacht.
Was für bahnbrechende Konzeptalben gilt, trifft auch für "The Source" zu: Die Lyrics und verschiedenen Rollen der Sänger gehen eine perfekte Symbiose mit der Musik ein. Auf zwei CDs präsentiert Arjen Lucassen eine spannende, dramatische Geschichte, die euch eine ganze wunderbare Weile lang aus dem Alltag reißt und vom ersten Moment an fesselt.
AYREON fliegen in voller Besetzung
Lucassen hat es wieder einmal geschafft, die Creme de la Creme der Metal-Branche zu vereinen. Der Holländer hat ein einzigartiges Gespür für die passenden Stimmen, die seine Charaktere verkörpern sollen. Dabei setzt er auf Veteranen (James LaBrie, Simone Simons, Russell Allen, Floor Jansen, Tobias Sammet, Hansi Kürsch, Russell Allen), teils an früheren Werken beteiligt, und Neuzugänge im AYREON-Universum (Tommy Karevik, Tommy Rogers, Nils K. Rue, Michael Eriksen, Mike Mills). Hansi Kürsch und Tobias Sammet gemeinsam in einem Song hören zu dürfen, ist schlichtweg atemberaubend, und Mike Mills als TH-1 kann als die Entdeckung des Jahres gehandelt werden.
Auch die Instrumentalfraktion ist neben Arjen Lucassen prominent besetzt: Drummer Ed Warby und Ben Mathot (Violine) kennen AYREON-Fans bereits seit langem, Jeroen Goossens (Flöte), Joos van den Broek (Piano) und Maaike Peterse (Cello) komplettieren die Mannschaft zusammen mit solierenden Gästen wie Mark Kelly und Paul Gilbert. Lucassen selbst kümmert sich als Gitarrist und Bassist sowie Kapellmeister darum, dass jedes noch so kleine Stück am richtigen Platz ist. Der Mann ist ein verdammtes Genie!
Die Blaupause für zukünftige Metal-Opern
Das die Bühne bereitende "The Day The World Breaks Down" mit Zwiegesprächen, die unheimlichen Prophezeiungen in "Sea Of Machines", der Kontrast aus Fröhlichkeit und Zerstörung in "Everybody Dies", das melancholische Erinnern in "All That Was", die Aufbruchsstimmung in "Planet Y Is Alive", das Vergessen in "The Source Will Flow", die Hoffnung auf ein neues Leben in "Journey To Forever" – man kann gar nicht genug von der Geschichte bekommen, die vor einer höchst abwechslungsreichen musikalischen Kulisse geboten wird ...
... und muss sie sich immer und immer wieder anhören. Dabei entdeckt man auch nach zig Durchgängen neue Feinheiten, Nuancen, die vorher nicht aufgefallen sind – und wenn es nur ein geflüstertes Wort, eine markante Basslinie oder der leicht veränderte Tonfall eines Sängers ist.
Ähnlich wie "The Human Equation" ist "The Source" so etwas wie die Blaupause folgender Metal-Opern. Trotz progressiver Ausrichtung sind die Songs AYREON-typisch extrem melodisch und eingängig. Und weil vom Artwork über die Produktion bis zu der musikalischen Umsetzung einfach alles zusammenpasst und fließend ineinander greift, ist "The Source" nichts anderes als ein absoluter Genre-Meilenstein!
Sänger
James LaBrie (Dream Theater) - The Historian
Tommy Karevik (Kamelot, Seventh Wonder) - The Opposition Leader
Tommy Rogers (Between the Buried and Me) - The Chemist
Simone Simons (Epica) - The Counselor
Nils K. Rue (Pagan's Mind) - The Prophet
Tobias Sammet (Edguy, Avantasia) - The Captain
Hansi Kürsch (Blind Guardian) - The Astronomer
Mike Mills (Toehider) - TH-1
Russell Allen (Symphony X) - The President
Michael Eriksen (Circus Maximus) - The Diplomat
Floor Jansen (Nightwish) - The Biologist
Zaher Zorgati (Myrath) - The Preacher
Will Shaw (Heir Apparent), Wilmer Waarbroek, Jan Willem Ketelaars, Lisette van den Berg (Scarlet Stories) - The Ship's Crew
Musiker
Arjen Anthony Lucassen - electric and acoustic guitars, bass guitar, mandolin, synthesizers, Hammond, Solina Strings, all other instruments
Ed Warby - drums
Ben Mathot - violin
Jeroen Goossens - flute, wind instruments
Joost van den Broek (ex-After Forever) - grand piano, electric piano
Maaike Peterse (Kingfisher Sky) - cello
Mark Kelly (Marillion) - synthesizer solo
Paul Gilbert - guitar solo
Guthrie Govan (The Aristocrats) - guitar solo
Marcel Coenen (Sun Caged) - guitar solo