Stil (Spielzeit): Prog, ProgMetal (44:44)
Label/Vertrieb (VÖ): InsideOut/SPV (03.07.09)
Bewertung: Ein echter Burner! 9,5/10
Links: http://www.riverside.art.pl/en/, http://www.myspace.com/riversidepl
„Anno Domini High Definition" ist das erste Album der polnischen Prog-/ ProgMetal-Band RIVERSIDE nach ihrer sensationellen, nur im letzten Drittel ganz leicht schwächelnden „Reality Dream"-Trilogie. Nicht nur das Thema ist neu – auch der Stil wurde überholt.
Überholt werden (im anderen Sinn als vorhin), mühsam Schritt halten, andere Menschen und das heutige Leben an sich in all seiner Hektik vorüberziehen sehen und irgendwie damit klarkommen: Um diesen Bereich kreisen die fünf Songs. Dem Thema entsprechend rasen RIVERSIDE durch das mit 44 Minuten und 44 Sekunden für ihre Verhältnisse überraschend kurze Album. Ich nehme ihnen dabei sogar halbwegs ab, dass die Kürze im Thema begründet ist, obwohl „ADHD" ja angeblich kein echtes Konzeptalbum ist. Wahrscheinlich sagen die das aber nur, um nach dem an Kraft und Kreativität zehrenden konzeptionellen „Reality Dream"-Marathon freier agieren zu können.
Genau das tun sie. Als ob eine Last von ihnen genommen wäre bauen sie leichthändig Neues ein. Schon der Gesang von Bassist und Frontmann Mariusz Duda im ersten Song weicht in seiner gewagten und ebenso gelungenen Melodieführung von alten, allzu ausgetretenen Pfaden ab. Aber genau darum geht es ja: Immer quirlig zu sein, nie stehen zu bleiben – offenbar eine Erfahrung, die dem Bandleader und Texter Duda nicht unbekannt ist. Unmissverständliche Song-Titel wie „Hyperactive" und „Driven To Destruction" zeigen klar auf, wohin die Gedankenreise geht. Zum Glück nimmt Einen dieses rasante und eher düster als melancholisch daherkommende Album jederzeit mit, so dass Einen die über das Album hinweg stetig wachsenden Song-Längen immer auf noch mehr Ideen hoffen lassen. Das tolle ist: Die Erwartung wird vollkommen erfüllt.
Aus der von mir festgestellten Stagnation des letzten Albums, „Rapid Eye Movement", befreien sich RIVERSIDE nicht zuletzt mit „Egoist Hedonist". Komplex und mit manch einer überraschenden Stelle (ich will hier gerade den Fans nicht zu viel verraten) lotet es die RIVERSIDE-typische Spanne zwischen Metal-Härte und großartigen, gefühlvollen Melodien zur Gänze aus. Da sind knapp neun Minuten gerade lang genug. Das schwermütige, bluesige, aber letztlich kämpferische „Left Out" will ebenfalls in Ruhe angehört werden. Es ist auch die einzige längere Gelegenheit zum Durchatmen, ansonsten treiben die Song gnadenlos voran. Und dann folgt der noch längere und noch komplexere Abschluss-Song...
Aber ich will eigentlich gar nicht in einzelne Song-Kritiken verfallen, denn ich habe einfach nichts zu meckern (außer dass die Platte auch gerne zwei Stunden gehen könnte). Die Stücke sind in sich und zueinander stimmig, etwas härter als zuletzt und doch voller Gefühl – RIVERSIDE sind eben nicht reine Techniker (obwohl jeder für sich ein echter Könner ist), sondern eher die Werkzeuge lebendiger Songs.
Gemeinsam ist den Stücken, dass sie verschiedene Ären des progressiven Rocks ohne jede Narbenbildung miteinander verbinden und mehr Spielfreude und Lockerheit als zuletzt ausstrahlen. Entscheidend ist letztlich, dass die bekannten RIVERSIDE-Trademarks immer noch Kraft haben, ja sogar noch mal an Intensität zugelegt haben: kreativer Bass voller Groove, harte Riffs, warmer und variantenreicher Gesang, unheimlich stilvolle Synthies und schwerelose Gitarrensoli. Zudem sind die Drums variabler geworden.
Die Produktion hingegen ist nicht nur gut, sondern vielleicht sogar zu gut. Das Album bewegt sich zweifellos an der Grenze zur Überproduktion. „ADHD" (was ja übrigens auch die Abkürzung für die englischsprachige Abkürzung für das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom ist) fiept, rummst und piepst an allen Ecken und Enden. Hier ein Echo, da noch eine weitere Gesangsspur...funktionieren die aufgepumpten Songs auch unter Live-Bedingungen? Ja, ich glaube, das wird der Fall sein. Alle fünf Stücke von „Anno Domini High Definition" sind einfach viel zu gut komponiert, um von Produktionstricks abhängig zu sein, haben schlichtweg zu viel Substanz.
Kurzum: Mit „Anno Domini High Definition" sind RIVERSIDE vitaler denn je. Und die machen sich Sorgen um das heutige Tempo?!? Blödsinn! Als RIVERSIDE vor einigen Jahren noch ein Geheimtipp war, erhofften sich offenbar viele Progger von dieser Band einen Fingerzeig, was moderner, oder noch besser zeitloser Progressive Rock sein könnte. Hier ist er. Mal wieder. Tolle Band! Großartiges Album!