Als PINK FLOYD vor einigen Monaten aus dem Nichts ein neues Album ankündigten, waren Aufregung, Freude und Skepsis gigantisch. Die Aussicht auf ein neues Lebenszeichen der Legende dürfte für viele Fans das Größte überhaupt gewesen sein, nachdem die Chance auf eine Reunion im Original-Lineup mit dem Tode Richard Wrights endgültig vorbei war. Selbst Kritiker mussten anerkennen, dass diese überraschende Ankündigung seine Wirkung nicht verfehlte.
Das lange Warten hat nun, im November 2014, endlich ein Ende. "The Endless River" ist das 15. Studioalbum der offiziell nie aufgelösten britischen Pioniere, die seit Jahren nur noch aus Drummer Nick Mason und Gitarrist David Gilmour bestehen. Es ist ein Tribut an den 2008 verstorbenen, selbst laut seiner Bandkollegen unterbewerteten Richard Wright, der es nie so recht aus dem Schatten von Waters und Gilmours schaffte - dabei komponierte er zahlreiche bahnbrechende PINK FLOYD-Meisterstücke. Und zugleich ist "The Endless River" noch so viel mehr!
Auf dem neuen Album, dessen wunderbar aufgemachte Deluxe-Version (hochformatiger Pappkarton mit großem Cover, bebildertes großformatiges Booklet, Postkarten-Set, Bonus Blu-ray/DVD mit verschiedenen, sehr hörenswerten Album-Abmischungen in 5.1 und Stereo sowie zusätzlichem Material) sich alleine wegen des ungewöhnlich rockigen Bonustracks "Nervana" (ein absolutes Highlight!) lohnt, ist Wrights Einfluss deutlich hörbar. Die Songs - oder besser gesagt der einzige (Titel-)Song, der in 18 einzeln auswählbare Tracks aufgeteilt wurde - stammt aus den Sessions des 1994 veröffentlichten Longplayers "The Division Bell". Aus über 20 Stunden Material haben Gilmour und Mason die Essenz von PINK FLOYD heraus gefiltert, die unverkennbar nach "The Division Bell" klingt, nicht nur im Titel zahlreiche, oft kurze Reminiszenzen an alte Meisterwerke enthält und gleichzeitig in dieser Form ein PINK FLOYD-Novum ist.
"The Endless River" kann am ehesten als progressives Ambient-Album bezeichnet werden. Gilmours akustische Gitarre kommt vermehrt, sein elektrisch verstärkter Sechssaiter seltener zum Einsatz - wenn, dann aber richtig: Mit prägnanten Akkorden, gefühlvollen Soli, passenden Effekten und virtuos angeschlagenen Tönen. Nick Mason, der einige Drumspuren noch mal neu eingetrommelt hat, ist gleichzeitig verlässlicher Taktgeber wie vertrackter Solist (die von ihm mitkomponierten "Sum" und das psychedelische, an die Anfangstage der Band erinnernde "Skins"). Der größte Ruhm gebührt jedoch Wright, der in den Sessions sämtliche Register seines Könnens zog. Er legt sphärische Keyboard-Teppiche, wärmt die Seele mit gefühlvollen Pianoklängen und Hammond-Elegien, erzeugt mit Kirchenorgeln wahre Größe ("Autumn '68", das Wright 1968 tatsächlich in der ehrwürdigen Royal Albert Hall einspielte) und verwundert mit effektvollen Spielereien. Der Keyboarder, sein Geist, ist stets präsent.
Mit dem Titel ihres letzten Studioalbums, der auf einer Textzeile aus "High Hopes" baisert, fordern PINK FLOYD geradezu passende Allegorien heraus. Und ja, der Mammut-Song klingt tatsächlich wie ein musikalischer Fluss, auf dem man in die Unendlichkeit segelt und der - obwohl in 18 Tracks unterteilt - nur am Stück genossen werden kann. Man gleitet, unterbrochen von leuchtenden Fixpunkten, auf dem Wolkenmeer des fantastischen Artworks dahin und verliert sich in einer zumeist ruhigen Stimmung, die zu Beginn warm und positiv ("Side 1"), zwischendrin verstörend-komplex ("Side 2", abgesehen von dem poppigen, mit einem ungewöhnlichen Saxophon-Solo aufwartenden "Anisina"), wechselhaft schön und düster-bedrohlich ("Side 3") und zum Schluss besonnen-friedlich ("Side 4") klingt. Oft entdeckt man als Hörer wohlbekannte Details, etwa psychedelische Elemente der frühen Bandtage, die Gitarre aus "Another Brick In The Wall" in "Allows-Y", "Shine On You Crazy Diamond"-artige "Ah's" und "Uh's" oder "Welcome To The Machine" in vielen verschiedenen Facetten (die Stimmung in "Calling", das Piano in "Unsung", die akusitschen Gitarren in "It's What We Do", das überdies in der klassischen PINK FLOYD-Tradition steht). "The Endless River" ist das ruhigste Werk und durch das fast vollständige Fehlen von Vocals wohl ungewöhnlichste Album der gesamten PINK FLOYD-Historie.
Nur ein Track, der sechseinhalbminütige Abschluss "Louder Than Words", ist ein Ausnahmesong im klassischen Sinne. Bereits der Beginn ist pure Magie: Im Takt von Masons Metronom spielt Gilmour eine wunderschön melancholische Melodie, die sich - akzentuiert von akustischen Akkorden, dem von Bob Ezrin gespielten Bass und Wrights Piano - in einer positiveren Stimmung durch den gesamten Song zieht. Nach dem Intro steigt die komplette Band zurückhaltend ein (im klassischen Sinne rockig ist das Album zu keiner Zeit), Gilmour beginnt, den von seiner Frau Polly Samson mit allem Herzblut, das die Seele her gab, geschriebenen Text zu singen: "We bitch and we fight / Diss each other on sight / But this thing we do / These times together / Rain or shine or stormy weather / This thing we do". Es ist schwer vorstellbar, dass diese versöhnliche Message nicht in Richtung Roger Waters gehen soll, insbesondere, wenn der atemberaubende Gänsehaut-Refrain erklingt: "It's louder than words / This thing that we do / Louder than words / The way it unfurls / It's louder than words / The sum of our parts / The beat of our hearts / It's louder than words". Und dann, endlich, bringt der Gitarrist ein so typisches, großartiges Solo vor all der sanften Entrücktheit, all der durch die Backing Vocals hervorgerufenen positiven Energie, dass alles, was in den 20 Jahren nach "The Division Bell" passiert ist, überhaupt nicht mehr wichtig ist.
"The Endless River" ist nicht nur das endgültige Vermächtnis einer der größten Bands aller Zeiten, es ist ein Akt der Versöhnung, ein Einsehen, mit dem PINK FLOYD sich selbst und dem Rest der Welt sagen: Wir sind lauter als Worte. Wir sind die Summe aller Teile einer fast 50-jährigen Bandgeschichte mit all ihren Höhen und Tiefen. Es ist ein endloser Fluss, auf dem wir segeln - wir, die jetzt noch dabei sind, und alle, die jemals mit an Bord waren, gegangen, gestorben oder verrückt geworden sind.
Was kann man sich mehr von einem Schwanengesang einer solch großartigen Band wünschen?
Chrischi
Stile: Metal und (Hard) Rock in fast allen Facetten
Bands: Metallica, Pearl Jam, Dream Theater, Iron Maiden, Nightwish ...