Zum ersten Mal ist weder Science Fiction noch das Mittelalter Thema, die Storyline des Doppelalbums spielt sich im späten 19. Jahrhundert im viktorianischen England ab. Inspiriert wurde die Gothic-Horror-Story von Mystery- und Psychothrillern wie "The Others und "Ghost - Nachricht von Sam", musikalische Einflüsse lieferten neben Komponisten wie John Carpenter und Jerry Goldsmith Rockopern wie "Tommy" und "Jesus Christ Superstar".
Mehr Theatralik, mehr Musical, mehr AYREON
In diesem Kontext wirkt "Transitus" noch theatralischer und besitzt mehr Musical-Charakter als bisherige AYREON-Werke. Im gewohnt bombastischen Rahmen zwischen warmherzigem Progressive Rock, Folk, epischen Keyboards und Elektro-Spielereien geht Lucassen noch einen Schritt weiter. Er experimentiert mit Soft-Rock-Balladen aus den Achtzigern ("Two Worlds Now One"), zackig überdrehtem Zirkus-Rock, den DEVIN TOWNSEND kaum besser tönen lassen könnte ("Listen To My Story", "Your Story Is Over!") und funkigen Basslinien ("Message From Beyond"). Dennoch klingen die Songs selbst in ihren experimentellen Phasen immer eigenständig und zu 100 % nach AYREON.
Wie auf "The Source" und allen bisherigen AYREON-Werken fällt einmal mehr auf, wie passend die einzelnen Rollen dieses Projekts besetzt sind. Nicht eine Sekunde lang hat man das Gefühl, eine andere Stimme würde besser zu einem der Protagonisten passen. Ganz im Gegenteil: Der Cast harmoniert ganz wunderbar miteinander. Das ist eine der großen Stärken Lucassens, die er mit AVANTASIA-Mastermind Tobias Sammet teilt. Solo-Einsätze, Duelle und Duette sind unwiderstehlich gut und fangen jederzeit genau die Stimmung ein, die die Geschichte erzählt.
Wenig prominente, aber ungeheuer starke AYREON-Gästeliste
Dabei ist die Gästeliste diesmal nicht ganz so opulent und prominent besetzt wie in der Vergangenheit. Klar, Tommy Karevik (KAMELOT) und Cammie Gilbert (OCEANS OF SLUMBER), die den beiden Hauptprotagonisten ihre Stimme leihen, kennt man als Metal-Fan mehr oder weniger, ebenso TWISTED SISTER-Legende Dee Snider und EPICA-Sängerin Simone Simons. Paul Manzi (ARENA), Amanda Somerville (TRILLIUM), Michael Mills (TOEHIDER) oder Caroline Westendorp (THE CHARM THE FURY), die teils nicht zum ersten Mal mit Lucassen arbeiten, sind aber jetzt nicht die, die man als "Genregrößen" bezeichnen würde.
Das macht aber gar nichts, denn egal, ob unbekannt, ein bisschen oder so richtig prominent: Alle beteiligten Sängerinnen und Sänger machen einen fantastischen Job!
Das kann man auch der Instrumentalfraktion bescheinigen, die neben Lucassen (Gitarre, Bass, noch ein bisschen mehr) unter anderem aus den langjährigen AYREON-Sidekicks Joost van den Broek (Keyboards), Ben Mathot (Violine) und Jeroen Goossens (Flöte) besteht. Ed Warby trommelt übrigens nicht, an seiner Stelle sitzt Juan van Emmerloot hinter der Schießbude. Lucassen, der van Emmerloot noch aus seiner Zeit bei VENGEANCE kennt, wollte für sein neuestes Werk einen anderen Drum-Stil.
Mit Joe Satriani, dem ehemaligen MEGADETH-Klampfer Marty Friedman sowie dem deutschen YouTube-Star Patty Gurdy (Drehleier), die mit "Grieve No More" sogar einen Song zur Amazon-Serie "Carnival Row" beigesteuert hat, hat Lucassen außerdem drei namhafte Gastmusiker für "Transitus" gewinnen können.
Die Story hinter "Transitus" ist nett - nicht weniger, aber auch nicht mehr
Die Story spielt 1884 und erzählt von Daniel und Abby, einem unkonventionellen Paar, dessen Liebe tragisch endet. Gefangen in Transitus, der Zwischenwelt zwischen Himmel und Hölle, versucht Daniel, die Geschehnisse aufzuhalten, während sich Abby in der echten Welt immer weiter verliert und widrigen Einflüssen ausgesetzt ist. Viel mehr kann ich nicht erzählen, ohne zu spoilern - und das möchte ich an dieser Stelle nicht.
Nur so viel: Die Geschichte macht Laune, ist aber wesentlich unspektakulärer als gedacht und nach Lucassens Aussagen erhofft. Es geht um Liebe, Schicksal, Lügen, Intrigen und versuchte Wiedergutmachung. Dabei werden Horror-Elemente nur gestreift, während Gothic-Einflüsse wegen des Settings gegeben sind. Trotz der Umsetzung konnte man in vorherigen AYREON-Alben deutlich besser in der Story versinken.
Durch die Geschichte führt mit warmer, voller Stimme Tom Baker, der in den Siebzigern "Doctor Who" verkörperte. Einen besseren Storyteller hätte Lucassen indes nicht wählen können.
"Transitus" ist erneut ein AYREON-Geniestreich
Mit "Transitus" ist Arjen Lucassen einmal mehr ein Ausnahmewerk gelungen, dem man zugestehen sollte, es zumindest einmal intensiv mit Comic und Lyrics zu erleben - selbst, wenn die Geschichte ein bisschen cheesy und nicht wirklich gruselig oder sonderlich packend ist. Das funktionierte auf "The Source" besser.
Musikalisch aber - und das ist das Wichtigste - ist AYREON mit kleinen stilistischen Experimenten und verstärktem Musical-Feeling nach wie vor eines der besten Projekte in Sachen Rock-Oper.
"Transitus" Trackliste:
CD 1
1. Fatum Horrificum
2. Daniel's Descent into Transitus
3. Listen to My Story
4. Two Worlds Now One
5. Talk of the Town
6. Old Friend
7. Dumb Piece of Rock
8. Get Out! Now!
9. Seven Days, Seven Nights
CD 2
1. Condemned Without A Trial
2. Daniel's Funeral
3. Hopelessly Slipping Away
4. This Human Equation
5. Henry's Plot
6. Message from Beyond
7. Daniel's Vision
8. She is Innocent
9. Lavinia's Confession
0. Inferno
11. Your Story Is Over!
12. Abby In Transitus
13. The Great Beyond
AYREON Line-up:
Characters / Vocals
Tom Baker as The Storyteller
Tommy Karevik (KAMELOT) as Daniel
Cammie Gilbert (OCEANS OF SLUMBER) as Abby
Paul Manzi (ARENA) as Henry
Amanda Somerville (TRILLIUM) as Lavinia
Johanne James (THRESHOLD) as Abraham
Dee Snider (TWISTED SISTER) as The Father
Simone Simons (EPICA) as The Angel Of Death
Michael Mills (TOEHIDER) as The Statue
Marcela Bovio (MAYAN) as Fury / Servant / Villager
Caroline Westendorp (THE CHARM THE FURY) as Fury / Servant / Villager
Dan J. Pierson, Jan Willem Ketelaers, Lisette van den Berg, Marjan Weman, Will Shaw, Wilmer Waarbroek as Villager
Instrumentalists & guests
Arjen Lucassen - guitars, bass, keyboards, Glockenspiel, dulcimer, toy piano
Joost van den Broek - hammond, piano, fender rhodes
Juan van Emmerloot - drums
Ben Mathot - violin
Jeroen Goossens - flutes and other woodwinds
Jurriaan Westerveld - cello
Alex Thyssen - horn
Patty Gurdy - hurdy gurdy
Thomas Cochrane - trumpet and trombone
Joe Satriani - lead guitar on "Get Out! Now!"
Marty Friedman (MEGADETH) - lead guitar on "Message From Beyond"
Hellscore - choir (directed by Noa Gruman)
Dianne van Giersbergen - soprano