Nach 30 Jahren ziehen Joey Cape und seine Kumpanen Bilanz ihrer Reise durch die Auf und Abs als Band, als Väter, als scharfsinnige Beobachter der Dinge, die um sie herum passieren – ohne dabei herablassend zu wirken. Es ist ein Album, das mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Das mich nachhaltig berührt und festigt in meinen Weltanschauungen und dem, was mir als Mensch sehr wichtig ist: immer alles mit Weitblick betrachten zu wollen, ohne dabei die Leichtigkeit und den Humor zu verlieren.
Von Katzen und Kapitalismuskritik
Was mich an den Texten von Joey Cape unfassbar beeindruckt, ist, dass er es immer wieder schafft, mit einer tragenden Leichtigkeit Humor und Ernsthaftigkeit in Einklang zu bringen, ohne dass weder das eine noch das andere zu dominieren scheint. „Fan Fiction“ ist der „lebende Beweis" für diese Harmonie. Es geht darum, dass Fans oft nach einer Reunion einer längst vergessenen Band ihren Fankult an die alten Zeiten anknüpfen, obwohl sie die Band erst mit der Wiedervereinigung entdeckten. Und all das ungeachtet dessen, was die Band im Hier und Jetzt verkörpert. Mit typischem Science-Fiction-Vokabular zieht Joey mit einem Augenzwinkern und einem Lächeln den Finger nach oben, ohne dabei mahnend und abwertend zu wirken, sprachlich sehr klug und scharfsinnig formuliert.
Ähnlich verhält es sich bei „Jini“: Jini ist der Name der Katze von Joey Capes Tochter. Joey schrieb über den Track, er wolle einen Song mit komödiantischer Leichtigkeit kreieren. Das ist ihm auch gelungen. Wenn man seiner Katze einen Song widmet – dem einzigen Wesen, das den ganzen Tag nur schläft und frisst und glücklich und zufrieden scheint –, in dem man beklagt, dass alle anderen Menschen ja nur über wirtschaftliche Probleme klagen, dann finde ich das eine charmante Art, Kapitalismuskritik auf den Punkt zu bringen.
Der erste Track „Stealing Light“ bohrt tief in unserem Tun und handelt davon, wie wichtig Identität ist und wie sehr wir auf der Suche danach uns gegenseitig aus den Augen verlieren, weil wir mit nichts anderem außer mit uns selbst beschäftigt sind. Eine ganz klare Botschaft, die wir uns alle immer wieder mal zu Herzen nehmen sollten. „Surviving California“ beschreibt scharfsinnig die kalifornische Heimat von LAGWAGON, die Entwicklung der westlichen Industrieländer und das Aufklaffen der sozialen Schere zwischen Arm und Reich. Es ist eine Beschreibung der paradiesischen Seiten eines prosperierenden Staates in Amerika und dessen harter, abgehängter gesellschaftlicher Realität auf der anderen Seite.
Bertrand Russel und schwarze Materie
Mit „The Suffering“, dem ein gesprochenes Zitat von Bertrand Russel vorangeht, gehen LAGWAGON der philosophischen Frage nach den tiefen Abgründen unseres menschlichen Daseins auf den Grund. Dieser Song ist mein absolutes Highlight auf der Platte, ein Bollwerk, das emotionaler nicht sein kann, musikalisch wie textlich. Was uns in „Dark Matter“ mit Blick auf den Umstand von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über schwarze Materie nahezu um die Ohren gehauen wird, ist, wie tief wir eigentlich im Schlamassel hängen: Die Kritik an der wahnhaften Suche nach immer mehr Erkenntnis führt uns zu einem tiefen Glauben an die Naturwissenschaft, der den Blick auf die wesentlichen Dinge verklären könnte, so habe ich es zumindest verstanden. Und wo wir gerade beim Glauben sind, darf natürlich in all dem die Kritik an der Religion nicht fehlen, wie in „Pray For Them“.
Ein weiterer Song, der ein wichtiges gesellschaftliches Thema anspricht, ist "Parabel", der den folgenden Zyklus beschreibt, in dem wir uns alle befinden: Wir sind ein Sammelsurium all unserer Erfahrungen, diese Erfahrungen geben wir an unsere Nachfahren weiter und diese wiederum an ihre Nachfahren. Den Dreh zu schaffen, um "Dangerous Animal" zu beschreiben, bekomme ich gerade nicht garlant hin. Vielleicht auch, weil die Message dahinter ganz klar und bitter ist: Dass wir Menschen eigentlich die gefährlichsten Tiere auf diesem Planten sind. Gerade im Hinblick darauf, wie schwerwiegend wir unseren Planten Erde ausbeuten, sollten wir uns einmal mehr in unserem Handeln und Denken selbst hinterfragen. Zumindest sind das meine Überlegungen zu Joey Capes Ausführungen in "Dangerous Animals".
The 90s are back
Neben all den schweren, ernsten Themen gibt es natürlich auch Songs, die leichter erscheinen auf den ersten Blick. „Bubble“ ist einer davon, der an die musikalischen 90er Jahre erinnert. Bubble meint hier die Blase, in die man die Erinnerung aus den hochgelobten Jahren gepackt hat, die um einen herum schwebt. Eine Blase, die alles Negative verklärt und uns unsere ganz eigene Erinnerung erhält. Der Sound ist sowas von 90er, dass man die ganz eigene „Bubble“ direkt wieder aufleben lässt und sich wohlig einschmiegt in das, was man erinnern will.
Und da schließt sich auch der letzte Track „Faithfully“ an, ein Cover von JOURNEY. Das ist quasi "die" 90er Band, die LAGWAGON in ihrer Blase verewigt haben. Ein großartiges, rundes Punk-Cover eines Stücks Musikgeschichte einer Band, die jeder kennt, der in den 90ern heranwuchs. Der Vorschlag Joey Capes bei den ME FIRST AND THE GIMME GIMMES, den Song von JOURNEY zu covern, fand leider kein Gehör, der Song konnte aber mit diesem Album endlich das Licht der Welt erblicken.
„Auf Wiedersehen“ hat bei mir die Alarmglocken beim erstmaligen Hören läuten lassen. Das klang für mich im ersten Moment wie ein Sich-Verabschieden. So ein Song, den alle mal schreiben, wenn die Uhr schon 10 nach zwölf anzeigt, man hat alles erlebt und setzt sich zur Ruhe. Aber es ist noch nicht genug, so tönt und hallt die Stimme Capes in meinen Ohren. Und ich glaube fest daran, dass dies nicht die letzte Platte sein wird. Aber ich verstehe den Song so, dass es ist okay ist, wenn es mal vorbei sein sollte mit der Musik und das eben alles mal ein Ende hat. Dass man eben auch seinem Gefühl folgt und die weise Gelassenheit besitzt, irgendwann auch mal alles hinter sich lassen zu können mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Philosophie meets Punk
Zusammenfassend ist zu sagen: Für mich ist "Railer" das beste Punk-Rock-Album 2019, weil es mich in meiner Gedankenwelt packt, mich glauben lässt, auf dem richtigen Weg zu sein, mich emotional mitreißt und mir gleichzeitig ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Textlich ist es eins der stärksten Alben, die ich in letzter Zeit gehört habe. Zudem muss man sagen, dass es LAGWAGON geschafft haben, in all den Jahren ihrem eigenen Sound immer auch ein Stück weit Reife hinzuzufügen. Ich mag die Art, wie LAGWAGON Philosophie und Punk miteinander vereint.
LAGWAGON liefern uns keine Antworten, wie wir uns zu verhalten haben, wie wir die gesellschaftlichen Themen aufzuarbeiten haben, sie geben uns lediglich den Hinweis, näher hinzuschauen und uns selbst zu reflektieren. Sie tun es ja schließlich auch. Es ist ein in sich rundes Album, mit rotzigem 90er-Punk-Rock-Sound, getragenen Melodien, eingehüllt in die Überlegungen eines weisen aber junggebliebenen Joey Capes.
"Railer" Tracklist
- Stealing Light
- Surviving California
- Jini
- Parable
- Dangerous Animal
- Bubble
- The Suffering
- Dark Matter
- Fan Fiction
- Pray for them
- Auf Wiedersehen
- Faithfully