Mille zeigt Mut
Keine Angst, das 14. Studioalbum ist kein zweites "Outcast", "Cause For Conflict" oder gar "Endorama". Wobei selbst diese Scheiben mit der Zeit gereift sind und in der KREATOR-Historie nicht als peinlich abgestempelt werden dürfen. Doch wie sonst, wenn nicht mutig und experimentierfreudig, soll man es nennen, wenn eine erst 12-jährige Harfenspielerin, FLESHGOD APOCALYPSE, Boris "Yellow" Pfeiffer (Dudelsack, IN EXTREMO) und der Schweizer Sänger Dagobert ins Studio gebeten werden? Bei einer Band, die einst kompromisslose Abrissbirnen wie "Pleasure To Kill", "Flag Of Hate" und "Endless Pain" eingetrümmert hat?
Nicht ganz unschuldig an den Gastbeiträgen ist Produzent Jens Borgren, mit dem KREATOR zum zweiten Mal nach "Phantom Antichrist" zusammen gearbeitet haben. Was sich in geschriebener Form merkwürdig, vielleicht abschreckend liest, funktioniert bestens. KREATOR führen die musikalische Ausrichtung des Vorgängers konsequent weiter. Auf "Gods Of Violence" sind die Einflüsse des klassischen Metals so stark wie nie zuvor. Gleichzeitig zertrümmern dir die Jungs mit messerscharfen Riffs, Milles fiesem Gekeife und Ventors Doublebass-Attacken immer noch ganz oldschoolig die Gehörgänge.
Heftige Riffs, wütendes Gekeife? Check.
"Gods Of Violence" beinhaltet zehn Meisterleistungen auf schwindelerregend hohem Niveau, dazu ein altbekanntes Intro. Das zackig-marschierende, mit Orchester und Chören untermalte "Apocalypticon" eröffnet die Scheibe bombastisch, bevor "World War Now" zuerst den erwarteten Opener gibt: Geradlinige Riffs und Doublebass-Geknüppel im Refrain, bevor ein Tempowechsel mit Gitarren-Feedback den Weg für eine eingängige Passage ebnet, in der das Tempo zurück gefahren wird.
Und dann begleiten Akustikgitarren und Orchester das Geschehen mit der Stimmung eines Schwanengesangs, bevor das Tempo wieder angezogen wird, Sami und Mille sich in rasend schnellen Soli duellieren und der Opener mit der rohen Gewalt des Beginns sein Ende findet.
"Satan Is Real" – im treibenden Midtempo gehalten – beginnt mit verzwickten Riffs, führt über melodiöse Strophen und Bridge in einen dämonischen, mit Glockenschlägen untermalten Chorus, und endet nach einem Gitarren- und Drum-Gewitter im Solopart mit bombastischer Unterstützung durch Bläser.
Eingängige Refrains, famose Melodien? Check.
Mit heftigem Riffing und einem Befreiungsschrei von Mille steigen KREATOR in "Totalitarian Terror". Die Nummer ist Oldschool-Thrash vom Feinsten mit durchgedrücktem Gaspedal, bevor ein ein extrem eingängiger Refrain (diese Gitarrenharmonien!) für eine dicke Gänsehaut sorgt. Im Break sind live die "Hey, hey"-Schlachtrufe vorprogrammiert, es folgen ein kurzer Zwischenteil im Midtempo und eine exzellente Solopassage, bevor der Ohrwurm mit dem Chorus endet.
Harfenklänge und eine Zither (!) umwehen die einleitenden Akustikgitarren im Titeltrack, dann nehmen melodische Gitarren und Milles Schlachtruf "We shall kill!" den Chorus vorweg. Anschließend beginnt das erneut knüppelharte, dennoch melodiöse Thrash-Inferno, in dem Tempowechsel für Abwechslung sorgen und doppelläufige Leads sich mit quietschenden Soli abwechseln (schöne Grüße an IRON MAIDEN und JUDAS PRIEST).
"Army Of Storms" ist nach melodischem Einstieg oldschooliges Geholze mit monotonem Gekeife, abgerundet von einer extrem geilen Bridge und dem klassischen KREATOR-Refrain. Der Ohrwurm lässt dich mit einem wunderbar melodischen Gitarrenduell den Musikgöttern auf Knien für das kongeniale Duo Petrozza/Yl-Sirnö danken.
Oldschool-Geballer, intelligente Texte? Check.
Na, schon schwindelig bis hier hin? Dabei habe ich mich mit den Superlativen doch zurückgehalten, und die zweite Albumhälfte erwartet uns erst noch. "Hail To The Hordes", eine melodische Hymne an die Fans, erinnert mit seinen Gitarren und treibendem Drumming an RUNNING WILD. Der deutlich wahrnehmbare, traditionelle Metal-Einschlag läuft Gefahr, bei Altfans als absoltes No-Go durchzugehen – ich find's richtig geil. Auch die Unterstützung durch den Dudelsack von IN EXTREMO-Musiker Boris Pfeiffer passt extrem gut und lässt die Nummer sehr interessant enden.
Düster beginnt "Lion With Eagle Wings", in dem Mille die zischelnde Schlange gibt, bevor der Donner losbricht. Die Strophen sind wieder klassischer KREATOR-Thrash mit zackigen Riffs, im extrem eingängigen Refrain erwarten uns melodische Gitarrenläufe. Und weil ich nicht oft genug auf Das Duo Mille/Sami hinweisen kann: Die Klampfen gegen Ende sind erneut nicht von dieser Welt.
Mit leicht deathig angehauchten Stakkato-Riffs beginnt der düstere Stampfer "Fallen Brother". Der Gänsehaut-Refrain mit den ersten deutschn Textzeilen der Band ist exzellent, das krasse Break mit dem von Dagobert in Grabesstimme vorgetragenen Gedicht und die unterstützenden Chöre am Ende machen den Song zu etwas ganz Besonderem. Wer außer KREATOR kann sich sowas denn noch erlauben? Ganz großes Kino!
Progressive Parts, klassischer Metal? Check.
"Side By Side" verarscht dich dann ganz gewaltig. Du meinst erst, die simpelste Nummer des Albums, bestehend aus purem Oldschool-Thrash mit Minimal-Refrain, zu hören, doch Arschlecken: In der zweiten Hälfte packen KREATOR mal eben alle Harmonien, die vorher bewusst ausgeblendet wurden, rein. Das fängt bei dem leicht, aber wirkungsvoll veränderten Refrain an und geht über ein Solo zu einer unglaublich melodischen Passage mit gefühlvoll gespielten Klampfen.
Und wer jetzt denkt, dass mehr nicht geht, irrt einmal mehr: Der überlange Abschluss "Death Becomes My Light" beginnt akustisch mit cleanen Vocals, bevor treibende Drums, galoppierende Riffs und vorder- wie hintergründig zum Heulen geile Leads dem Sound eine neue, progressive Note hinzufügen. Der MAIDEN-Einfluss ist unüberhörbar, der klassische Metal ist wichtiger als Geholze. "Death Becomes My Light" ist KREATORs "Phantom Of The Opera". Das hat mit Thrash Metal nicht mehr viel zu tun, passt aber dennoch zu 100 Prozent.
KREATOR übertreffen sich selbst
Was für ein Ritt. Mille hat sich im Songwriting selbst übertroffen und den KREATOR-Sound um ungewöhnliche, dennoch passende und spannende Nuancen erweitert. Unnötig zu erwähnen, dass Borgren der Band einen warmen, vollen und druckvollen Sound gezaubert hat. An die opulente Aufmachung einiger Songs, den Abwechslungsreichtum und die zahlreichen gelungenen Melodien müssen sich alteingesessene Anhänger eventuell gewöhnen, doch ich sage euch: Wer dieses Meisterwerk nicht kennt, verpasst etwas ganz, ganz Großes.
Ach ja: Der Kauf der Limited Edition mit Bonus-DVD oder -BD des Wacken-Gigs 2014 ist natürlich Pflicht. So was bringen andere Kapellen als eigenständige Vollpreis-Veröffentlichung auf den Markt.
"Violent Revolution", "Enemy Of God", "Hordes Of Chaos", "Phantom Antichrist" und jetzt "Gods Of Violence": Zum fünften Mal in Folge liefern KREATOR seit 2001 ein absolutes Brett ab, das von allen Trademarks seit ihrer Auferstehung noch ein bisschen mehr bietet: Mehr angepisstes Doubelbass-Geknüppel, mehr Melodien, mehr Mut, mehr Abwechslung, mehr Progressivität, mehr Sozialkritik.
Mehr KREATOR als auf diesem Album geht einfach nicht.
Tracklist
Apocalypticon – 1:06
World War Now – 4:28
Satan Is Real – 4:38
Totalitarian Terror – 4:45
Gods of Violence – 5:51
Army of Storms – 5:09
Hail to the Hordes – 4:02
Lion with Eagle Wings – 5:22
Fallen Brother – 4:37
Side by Side – 4:19
Death Becomes My Light – 7:26
Band
Miland „Mille“ Petrozza - Vocals, Gitarre
Sami Yli-Sirniö - Gitarre
Christian „Speesy“ Giesler - Bass
Jürgen „Ventor“ Reil - Drums