Als ich 15 Minuten vor Einlass am Im Wizemann ankomme, hat sich bereits eine zweireihige, mindestens 50 Meter lange Schlange gebildet. Der Einlass ist 10 Minuten verspätet und jeder einzelne Schritt in Richtung Eingang wird mit lautstarkem Jubel der bereits angetrunkenen Fans begleitet, denn aufgrund der Tatsache, dass das weibliche Geschlecht deutlich stärker vertreten ist, fällt die Handtaschenkontrolle um einiges länger aus. Endlich, eine halbe Stunde später im Gebäude angelangt, hat sich vor dem Frauenklo wieder eine weitere Schlange gebildet. Also mal wieder warten.
Das Konzert findet diesmal in der großen Halle des Im Wizemanns statt. Der Hallenraum ist deutlich größer als der Club und hat durch die großen Rohre an den Wänden ein schönes industrielles Flair. Bereits zehn Minuten vor der Vorband ist der Raum ziemlich gut gefüllt und die besten Plätze sind bereits vergeben. Während noch der Rest der Menge gemütlich eintrudelt, werden wir mit HipHop- und Rapmusik gefoltert, bis schließlich um Punkt 20 Uhr ELECTRIC LOVE die Bühne betreten.
Anti-alles: ELECTRIC LOVE aus Stuttgart
Das female-fronted Quartett, bestehend aus zwei Musikern und eben zwei Musikerinnen, macht eingängigen, simplen und soliden Rock, der von der Menge gefeiert wird. Auch die Band hat sichtlich Spaß an dem Tohuwabohu. „Wir haben noch nie vor so vielen schönen Menschen gespielt“, äußern sich die Stuttgarter hinsichtlich der bemerkenswerten weiblichen Beteiligung im Zuschauerraum. Anders als ich es sonst von Vorbands gewohnt bin, macht fast jeder einzelne bei dem Spektakel mit. Das fette Grinsen der Musiker beweist, dass sie nicht nur stolz auf sich, sondern auch auf das Publikum sind.
ELECTRIC LOVE sind gegen alles: Sie schreiben Texte gegen die AfD, gegen Nazis, gegen Miley Cyrus und, um den Pessimismus noch weiter auszuführen, über „beschissene Beziehungen“. „Wer einen Vorschlag hat für ein Thema, das nicht anti ist – wir sind offen für alles“, meint Sängerin und Bassistin Denise. Die Band spendet mit den Einnahmen ihrer Auftritte an eine Organisation, die misshandelten Kindern hilft. Auch am heutigen Abend wird zum Spenden aufgerufen, untermalt von der zustimmenden Geräuschkulisse der Anwesenden.
THE PRETTY RECKLESS lassen auf sich warten
Langsam wird es heiß in der Halle. Man fühlt sich wie in einem Backofen – nur zu gut, dass der Mann neben mir die Funktion eines menschlichen Kühlschranks einnimmt. Um 20:30 Uhr beginnt die nächste Wartezeit – das Warten sind wir ja mittlerweile gewohnt –, diesmal aber auf die Band des heutigen Abends: THE PRETTY RECKLESS. Während mir die HipHop-Musik langsam auf den Wecker geht, werden andere ungeduldig. THE PRETTY RECKLESS waren auf 21 Uhr terminiert, doch um 21:10 Uhr ist von den New Yorkern immer noch keine Spur zu sehen. Immer wieder wird die Wartemusik unterbrochen, begleitet von dem hoffnungsvollen Gekreische der Fangirls in der ersten Reihe, doch trotzdem lässt sich die Band nicht blicken und der Schweißgeruch in der Halle nimmt überhand.
Nach zwanzig Minuten Verspätung wird THE PRETTY RECKLESS schließlich mit Glockengeläut annonciert. Ob eine Band der Größe sich eine solche Verspätung leisten kann, darf oder sollte, darüber lässt sich streiten. Doch es scheint, als hätten alle Fans gerne gewartet, denn die Stimmung ist nun besser als je zuvor.
Den Mittelpunkt der Band bildet natürlich die Blondine Taylor Momsen, deren Schauspiel- und Modelkünste kaum zu übersehen sind. Sie post für die Kameras, spielt mit ihren Haaren, begrapscht sich und macht einen auf „Bad Girl“. Das ist vielleicht für den einen oder anderen zu viel des Guten, doch besonders der männlichen Minderheit scheint das zu gefallen – alles für die Attitüde eines "profesionellen" Rockstars.
Der Opener ist „Follow Me Down“. Das Gekreische der Fans ist teilweise lauter als die Musik selbst und verleiht dem ganzen Geschehen den Touch eines Popkonzertes. Das Publikum ist in vielerlei Hinsicht sehr verschieden. Neben Jung und Alt, weiblich und männlich, sind auch Menschen aus allerhand Szenen vertreten: Von Gothic über Punk bis zum allbekannten Hipster, der hier zahlenmäßig überlegen ist.
Eine Menge Lieder der vergangenen beiden Scheiben werden gespielt, aber natürlich gibt es allerhand Songs des neuesten Albums „Who You Selling For“ zu hören. Von rockigen Stücken bis zu Balladen ist alles vertreten. „Stuttgart, you guys are sweet!“, sagt Frau Momsen und leitet galant das nächste Lied „Sweet Things“ ein. Scheiternde Crowdsurfer und Propeller aus T-Shirts sind neben den verschwitzten Gesichtern aus verlaufenem Make-Up in der Menschenmenge zu erkennen.
In Nebel getaucht führen THE PRETTY RECKLESS ihre wohlausgewählte Setlist musikalisch und performancetechnisch einwandfrei auf. Durch die Bewegung der Leute steigt die Temperatur immer weiter an und auch Momsens gestylte Haare hängen bald in Strähnen vor dem Gesicht.
Bei „Heaven Knows“ greift auch Momsen zur Gitarre. Das Publikum unterstützt aus vollen Kehlen mit „Oh oh, heaven knows we belong way down below!“ und feiert das fulminante Gitarrensolo des Gitarristen Ben.
Schon bald nähert sich das Konzert dem Ende zu und wie erwartet bekommen wir mit „Fucked Up World“ eine Zugabe dargeboten, für die der Blondschopf mit ihrem Schellkranz einen Tanz auf der Bühne aufführt. Der Song wird mit einem Drum-Solo vom bärtigen Jamie ausgeweitet, zu einer Art Dubstep-Playback, was auch nicht jedermanns Sache ist. Zudem ist das Solo definitiv zu lang und einige untreue Zuschauer verlassen bereits den Saal.
Kaum sind die letzten Worte „It’s A Fucked Up World!“ gesungen, ist das Konzert um 22:45 Uhr offiziell beendet und ziemlich genau 1304 glückliche, schweißgebadete Menschen verlassen das Im Wizemann. Insgesamt sind THE PRETTY RECKLESS-Konzerte empfehlenswert. Als wirklicher Fan der Band lohnen sich Stehen, Warten und Stress, um die Amerikaner mal aus der Nähe und in natura erleben zu dürfen.
Setlist:
Follow Me Down
Since You're Gone
Oh My God
Hangman
Prisoner
Make Me Wanna Die
Just Tonight
Sweet Things
Who You Selling For
Living In The Storm
Heaven Knows
Going To Hell
Take Me Down
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Fucked Up World