Geschrieben von Sonntag, 29 August 2010 00:00

Serj Tankian & Viza - Hamburg / Große Freiheit 36



24.08.2010 ca. 11:00 Uhr. Nichts ahnend sitze ich im Büro, als Chris mir schreibt, dass er es heute nicht schaffen wird, zum Serj Tankian Konzert in die große Freiheit 36 zu gehen und mich bittet, für ihn zu übernehmen. Nichts lieber als das, denke ich mir, und freue mich darüber, dass eine innere Stimme mir heute Morgen empfahl, zusätzlich zu meinen Bürostöckeln meine Chucks einzupacken.

19:50 Uhr – Mit einem Bier in der Hand stehe ich in der erstaunlich jungen Menschenmasse, die gekommen ist, um den gebürtigen Armenier und Frontmann von SYSTEM OF A DOWN zu feiern, und warte auf die mir völlig unbekannte Vorband VIZA.

Um Punkt 20:00 Uhr stürmt die neunköpfige Combo aus Los Angeles die Bühne. Hierzulande gerade mal ein Insidertipp, spielen sie in den USA und Kanada vor ausverkauftem Haus. Mit ihrem eigensinnigen Sound, der erstaunlicherweise aus osteuropäischen Gefilden zu stammen scheint und hier und da auch eine Spur Orient enthält, zerschmettern sie das Klischee einer kalifornischen Rockband innerhalb der ersten Sekunden. Auch eine gewisse Ähnlichkeit zu SYSTEM OF A DOWN lässt sich nicht verleugnen. Als ich am nächsten Tag im Internet entdecke, dass VIZA (ehemals VISA) bei der Plattenfirma Serjical Strike Records unter Vertrag sind, löst sich die Verwunderung schlagartig. Schließlich gehört das Label Serj Tankian selbst, der hier Musikern, die vom Mainstream nicht wahrgenommen werden, eine Möglichkeit zur Veröffentlichung bietet. Wie passend, denn Mainstream ist wirklich ein Wort, das auf diese Gruppe absolut nicht zutrifft. So nutzten VIZA zum Beispiel exotische Instrumente wie Duduks und Zurnas als Begleitung für die klare Stimme von Sänger K'noup. Nach 30 Minuten wirklich gutem Entertainment und lautem Applaus ziehen sich die Jungs hinter die Bühne zurück, um Platz zu machen für den Mann, auf den alle warten.

Als nach einem schnellen Umbau das Saallicht erlischt, gibt es kein Halten mehr. Serj Tankian ist noch nicht einmal auf der Bühne, als das Publikum anfängt zu schreien und nach vorne zu drängen. Als der 43-jährige dann endlich im Lichtkegel der Scheinwerfer erscheint und stimmgewaltig die ersten Klänge von „Saving us" anstimmt, fällt es kurzzeitig schwer, Luft zu holen - so eng ist es geworden. Direkt hintereinander fährt der ernsthafte Mann mit der großen Portion Eigenhumor ein musikalisches Feuerwerk bestehend aus „Baby", „Sky is over" und „Praise the Lord and pass the Ammunition" von der 2007 erschienenen „Elect the Dead" auf. Das Publikum grölt lautstark mit und springt auf und nieder, als würde es kein Morgen geben. Spätestens bei „Lie lie lie", das von einer unschuldig anmutenden Kindermelodie unterlegt ist und den Mord an einer Frau beschreibt, singt die ganze Halle vergnügt mit, und Tankian bewegt sich dazu auf der Bühne, als wäre er eine dieser kleinen Ballerinas, die man häufig auf Spieluhren sieht. Tropische Temperaturen und die Lust nach einem kalten Getränk lassen nicht lange auf sich warten. Jedoch hält mich das Wissen, dass ich nie wieder an meinen Platz zurückkehren könnte, davon ab, zur Bar zu gehen und meinen Durst zu stillen.

In der Mitte des Sets nimmt Tankian das Tempo raus und lässt das kleine Orchester auf der Bühne die Führung übernehmen. Ganz im Stil der „Elect the Dead Symphony" sind nun leisere, feinere Klänge am Zug, die die Aussage der oftmals politisch brisanten Songs und die einmalige Stimme des Sängers noch mehr in den Vordergrund stellen. Die Spring- und Tanzfraktion entspannt sich und wartet auf ihren nächsten Einsatz, der bald kommen wird.
Als besondere Schmankerln stellt Serj einige Songs aus seinem neuen Album „Imperfect Harmonies" vor, welches bei uns im September erscheinen wird. Besonders in meinem Gedächtnis verankert hat sich das ruhige und fast verzweifelt anmutende „Yes it's Genocide". Mit seinen ständig wiederholenden Textzeilen und Melodiefolgen wirkt es fast wie ein Gebet oder eine Beschwörung. Laut Aussage von Tankian das erste Lied, welches er – damals noch in Armenien lebend – geschrieben hat. Mit „Empty Walls", „Beethovens Cunt" und dem gesellschaftskritischen „Money" findet das Konzert nach fast 1,5 Stunden mit herzhaften Riffs sein Ende, und Strahlemann Serj startet in seinen wohlverdienten Feierabend.

Fazit: Serj Tankian ist einfach gute Unterhaltung. Erstaunlich, mit welchem Lächeln und welcher Leichtigkeit er seine oftmals anklagenden Texte und Melodien in die Gehörgänge des Publikums pflanzt. Über die gesamte Dauer strahlt der SoaD-Frontmann eine dermaßen große Präsenz und Sympathie aus, dass man fast vergisst, dass sich auch noch andere Musiker auf der Bühne befinden. Ein absolut gelungener Abend, mit tagelanger Ohrwurmgarantie im Nachgang.

Lalalalalalalala lie lie lie...

Fotos (c) BurnYourEars / Veronika Pramor
Vero

Gastautorin mit Wacken-Expertise