13.12.08 - Als wir in der Bochumer Zeche eintrafen, waren unsere Erwartungen hoch gesteckt. Ist ja auch kein Wunder, denn immerhin sind RIVERSIDE ein absoluter Top Act aus der jüngeren Progger-Generation.
Die „Reality Dream"-Trilogie brachte den vier Polen mit harten Riffs und sphärischen Passagen die wohlwollende und bisweilen begeisterte Aufmerksamkeit von Fans und Presse.
Die Vorband dieses Abends waren LAZULI, eine sogar für Prog-Verhältnisse ungewöhnliche Formation aus Frankreich. Ich hatte vorher nur mal kurz in einen neugierig machenden Song reingehört, um einen vagen Eindruck des Stils zu bekommen. Was ich dann live zu hören bekam, war allerdings vom Allerfeinsten! Von Anfang an musste ich den Sechs das im Prog wohl größtmögliche Kompliment zugestehen: absolute musikalische Eigenständigkeit. Das begann schon mit der Instrumentierung.
So war die Percussion (Schlagwerk, Vibraphon, Metallophon und Marimba) mit Frédéric Juan und Yohan Simeon gleich doppelt besetzt, um eine mitreißende, mal Ethno-mäßige und dann wieder wuchtige Basis für die exaltierten und immer dynamischen Lieder zu legen. Toll, wie die beiden sich ergänzten, auch schon mal die Instrumente tauschten und mit den gelegentlich eingespielten elektronischen Rhythmus-Samples harmonierten.
Ebenfalls faszinierend war das Gitarrespiel von Gédéric Byar, der 2004 als neuestes Mitglied zur Band gestoßen war. Er wechselte ständig zwischen modernem, teils metallischem Riffing und fies verzerrtem Gequietsche, das wie auch die Electro-Klänge viel zur düsteren und teils bedrohlichen Stimmung der Songs beitrug.
Dagegen setzte der kleine, ziegenbärtige Sänger und Gitarrist Dominique Leonetti mit seinen Folk-Melodien auf der Akustikgitarre hellere Klänge. Überragend war aber der Gesang dieses wie aus einem Comic entsprungen wirkenden Galliers, der schon neunzehnjährig eine Rock-Oper schrieb: Sagenhaft klar und hoch, beinahe feminin, immer präzise und irre ausdrucksstark. Dabei schreckte er auch vor ungewöhnlichen Melodien nicht zurück, vermied aber die extreme Exaltiertheit manch anderer französischer Prog-Sänger. Mit dramatischen Gesten untermalte er die Entwicklung der Songs oder berichtete in gebrochenem Deutsch von „einem menschenfressenden Ungeheuer in einem weißen Haus jenseits des Meeres". Fast wirkte er wie der Erzähler eines Dramas voller Unheimlichkeiten. Trotz dieser Theatralik verbreiteten er und die anderen Jungs mit viel Humor und Charme eine lockere und fröhliche Stimmung im zunehmend begeisterten Publikum, dem teilweise das Staunen ins Gesicht geschrieben war. Was ging denn hier ab? Statt einer 08/15-Vorband lauschen zu „dürfen", hatte man unverhofft das echte Vergnügen, einer waschechten Live-Sensation beizuwohnen.
Übrigens verzichten LAZULI auf einen normalen Bass. Dessen Aufgabe übernimmt der Chapman Stick des studierten Bassisten Sylvain Bayol. Zumindest dann, wenn er nicht auf der ähnlich konstruierten Warr-Gitarre spielt. Von allen Bandmitgliedern agierte er auf der Bühne am zurückhaltendsten.
Bleibt noch ein Musiker übrig: Claude Leonetti, der Bruder des Sängers. Und der spielt: die Léode. Hä? Was? Also, der Name setzt sich aus dem Anfang des Nachnamens und dem Ende des Vornamens seines Erbauers zusammen und das ist eben jener Claude Leonetti. Leider steckt dahinter eine traurige Geschichte: Nach einem Motorradunfall ist sein linker Arm dauerhaft gelähmt und er kann sein eigentliches Instrument, die Gitarre, nicht mehr spielen. Irgendwann träumte er von einem seltsamen Instrument, das er dann mit einem Techniker Schritt für Schritt in die Realität umsetzte. Heraus kam eine im Sitzen zu spielende Konstruktion, die einem Chapman Stick ähnelt, aber über Tasten eine MIDI-Schnittstelle ansteuert. Mit diesem kuriosen Teil erzeugt Claude Leonetti unheimliche, fremdartige Töne, die mal wie eine Singende Säge klingen, dann wieder wie eine E-Gitarre oder wie ein Sampler mit Industrial-Sounds.
So entwickelte dieser Auftritt von LAZULI eine außergewöhnliche Intensität und eine ganz eigene Faszination. Elegante, feinsinnige, entrückte Kleinode wie „Ouest Terne" standen neben düsteren, gewaltig krachenden Ausbrüchen. Dazu kommen die schon erwähnte frohsinnige Präsenz und pure Spielfreude - das Gesamtpaket ist eigensinnig und grandios. Und die haben mal als reines Studioprojekt angefangen? Unglaublich! Fand auch das Publikum und ließ die sechs Franzosen erst nach einer Zugabe endgültig von der Bühne.
Nachdem wir also Zeuge von nicht weniger als einer kleinen Live-Sensation geworden waren, war klar, dass die von mir hoch geschätzten RIVERSIDE trotz aller Vorschusslorbeeren einen außergewöhnlich guten Tag erwischen mussten, um da mithalten zu können. Und für den Fall hatte sich das Publikum noch den ganz großen Applaus aufgespart.
Ohne viel Umhebens zu machen, gingen die vier Polen direkt ans Werk und feuerten eine hochklassige Nummer nach der anderen raus: Ob trist wie „Rainbow Box", ruhig wie „I Turned You Down" oder wuchtig in manch ausladenderen Stücken, immer bestachen die Kompositionen und kamen dank des guten Sounds auch fein rüber.
Die Bühnenpräsenz der vier Herren hielt zumindest an diesem Abend lange Zeit nicht mit. Gitarrist Piotr Grudzínski gniedelte mit fast immer geschlossenen Augen äußerst introvertiert vor sich hin und hatte am Ende des Konzerts schätzungsweise die Wochenwegstrecke einer bekifften Wanderdüne absolviert. Aber zum Erzeugen der für RIVERSIDE so typischen atmosphärischen Gitarrensoli muss man ja auch nicht auf Boxen rumspringen oder mit einer brennenden Gitarre das Schlagzeug zertrümmern! Drummer Piotr Kozieradzki war natürlich durch sein (wie ich finde übrigens äußerst hässliches) Schlagzeug nicht gerade mobiler. Auch Micha? ?apaj wird wohl nicht als Partykönig in die Geschichte eingehen - und dabei hat er doch so ein lustiges kleines Maskottchen an seinem Keyboard.
Bleibt noch die zentrale Figur der Band: Mariusz Duda. Sein Bass hatte wie auch auf den Alben einen fantastischen Klang und war ohne jedes Dröhnen angemessen prominent in den Sound gemischt. So würde ich mir das bei viel mehr Bands wünschen. So kamen die Melodien und vor allem auch der unwiderstehliche Groove super rüber. Allerdings sah man lange Zeit wenig von dem Spaß, den es machen muss, sowas vors Publikum zu bringen. Nun macht Duda sowieso meistens einen eher ernsten Eindruck, und so wurden auch an diesem Abend seine Gesten erst im Verlauf des Gigs lebendiger. Vielleicht hatte er sich auch etwas zu sehr auf die Wirkung der Videos und Bildkompositionen verlassen, die hinter ihm auf einer Leinwand die Songs illustrierten. Nach über einer Stunde, ich glaube es war bei „Dance With The Shadows", ging er erstmals richtig aus sich raus. Bei so energetischer Musik ist das für einen Frontmann reichlich spät, finde ich.
Nach der regulären Spielzeit bedankten sich RIVERSIDE artig mit Applaus und Verbeugung beim Publikum, wurden dann aber vom frenetischen Jubel schnell wieder auf die Bühne gelockt. Erst jetzt schienen sie sich warmgespielt zu haben, zeigten mehr Präsenz und waren endlich die intensive Live-Band, die ich mir von Anfang an gewünscht hätte.
Die Hoffnung darauf, bei den zwei Zugaben erste Stücke vom kommenden Album „Anno Domini High Definition" zu hören, erfüllte sich leider nicht. Ebenso stand der sicherlich von vielen erhoffte Longtrack „Second Life Syndrome" diesmal nicht auf der Setlist; wahrscheinlich ist er in den Ohren der Band etwas zu totgenudelt.
Mit erneuter Verbeugung und - endlich! - befreitem Lächeln gingen RIVERSIDE dann endgültig von der Bühne. Dem begeisterten Applaus zufolge hätte das Publikum höhere Wertungskarten gezogen als ich, und das wäre immerhin mindestens eine 8.
Bleibt noch zu sagen, dass wir uns danach noch kurz mit den Sympathen von LAZULI unterhielten, soweit das unsere arg begrenzten Französischkenntnise zuließen, und die übrigens sehr empfehlenswerte CD/DVD-Kombination „En avant doute..." erstanden. Die bietet fantastische Musik, Einblicke in das Live-Erlebnis und ein Video über die Entstehung der weltweit einzigen Léode.
Mit den Erinnerungen an einen wie erwartet sehr guten Auftritt von RIVERSIDE und einen überraschend fantastischen Auftritt von LAZULI begaben wir uns auf die einstündige Rückreise.
Ungefähre Setlist RIVERSIDE:
Reality Dream 2
Volte/Face
Out of Myself
Rainbow Box
I Turned You Down
Reality Dream 3
Acronym Love
Beyond The Eyelids
Parasomnia
Dance With The Shadow
Before Back to the River
Conceiving You
Rapid Eye Movement
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Ultimate Trip Pt 1
02 Panic Room
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Lucid Dream 4
Fotos (c) by Kirsten Große Gehling / BurnYourEars
Bildergalerie
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