Die Pilgerreise geht weiter
Dabei versteht sich "The Great Adventure" nicht unbedingt als Nachfolger, eher als Bruder des Vorgängers. Cover, Gestaltung, Länge und Struktur ähneln "The Similitude Of A Dream" so stark, dass man meinen könnte, es mit zwei Versionen eines Outputs zu tun zu haben. Gleichzeitig unterscheiden sich beide Alben aber stark voneinander. Sie sind eng miteinander verbundene, eigenständige Werke.
Auch das neue Konzeptalbum basiert auf dem Buch "The Pilgrim's Progress" von John Bunyan aus dem 17. Jahrhundert. Während "The Similitude Of A Dream" die sinnbildliche Reise ins Jenseits eines einfachen Mannes schildert, behandelt "The Great Adventure" die Geschichte seiner ihm nachfolgenden Frau und Kinder aus dem zweiten Teil des "Handbuchs" des englischen Predigers. Mehr dazu findet ihr bei Wikipedia.
Übrigens muss man sich als Nichtgläubiger keine Gedanken darüber machen, von Morse mit allen Mitteln der (musikalischen) Macht missioniert zu werden: Im Gegensatz zu den Anfängen seiner Solo-Karriere ("Testimony") hält sich der liebenswerte Prog-Knuddelbär stark zurück und erzählt einfach eine Geschichte religiösen Ursprungs, mit der jeder anfangen kann, was er möchte – selbst, wenn er sie nur als Beiwerk zur Musik sieht.
Geben erneut alles, was man im Prog Rock geben kann: THE NEAL MORSE BAND (Foto: Robert Smith)
Der heimliche Star des Albums: Eric Gillette
"The Great Adventure" ist ein enorm abwechslungsreiches Werk mit Licht und Schatten, schroffen Tönen und erhabenen Melodien. Auffällig ist die kantige, härtere, rifflastigere Ausrichtung und der weiter gestiegene Anteil an Vocals der anderen Bandmitglieder. Während Mike Portnoys Vocals weiterhin wohlwollend als "unaufgeregt" bezeichnet werden können, sticht Eric Hubauer nicht nur wegen seiner warmen, hohen Stimme, sondern durch häufigere Einsätze hervor.
Insbesondere Eric Gillette, das mit Abstand jüngste Mitglied der THE NEAL MORSE BAND, ist wesentlich öfter zu hören, weil er den jungen Protagonisten der Geschichte vertont. Möglich, dass sich die reinen Einsatzzeiten hinterm Mikro gar nicht großartig von denen auf dem Vorgänger unterscheiden, aber gefühlt tritt Neal Morse noch stärker in den Hintergrund. Nicht, dass ich den obersympathischen Musiker nicht öfter hören wollen würde – seine Stimme ist nach wie vor eine der schönsten und angenehmsten in der rockigen Musikwelt. Doch gerade der verstärkte Gesangseinsatz von Hubauer und Gillette sorgt für noch (!) mehr Abwechslung und Eigenständigkeit als auf "The Similitude Of A Dream". Und das soll schon etwas heißen.
Nahtlose Verbindung zu "The Similitude Of A Dream"
Schon in der zehnminütigen "Overture", die nahtlos an das Ende von "The Similitude Of A Dream" anschließt, werden die meisten späteren Themen und Melodien zumindest kurz angerissen. "Welcome To The World" überzeugt mit einer starken Gesangsleistung von Bill Hubauer und Aufbruchstimmung. "Dark Melody" ist dem Titel gemäß düster; Eric Gillettes Riffs und Soli sind atemberaubend gut und auf den Punkt gebracht.
Auch in "I Got To Run" kann das jüngste Bandmitglied überzeugen – nicht nur an der Gitarre, sondern hinter dem Mikro, besonders im Refrain, der perfekt die verzweifelten Strophen, die von Neal Morse gesungen werden, kontrastiert.
Mit voluminösen Orgeln und seinem epischen Thema ist "To The River" purer Balsam für Seele. Auch der hoffnungsvolle Titeltrack mit GENESIS-Reminiszenzen gegen Ende sorgt für positive Stimmung, die im abwechslungsreichen "Venture In Black" umschlägt.
Im funkig-leichten "Hey Ho Let's Go" gehört die Bühne ganz allein Eric Gillette, der einmal mehr nicht bloß mit seinen Vocals, sondern ausdrucksstarken Gitarrensoli punktet. Nach dem ruhigen, einfühlsamen und hoffnungsvollen "Beyond The Borders" endet der erste Akt ...
Ein großartiges Abenteuer in zwei Akten
... der auf der zweiten CD mit der rein instrumentalen "Overture 2", die deutlich kürzer als der Album-Opener ausfällt, beginnt. Das wundervolle "Long Ago" streichelt einmal mehr die Seele, bevor es im treibenden "Fighting With Destiny" auch dank Orgeln und abwechslungsreichen Vocal-Performances wieder düster und heftig wird.
Auch "Welcome To The World 2" entpuppt sich nach wenigen Durchgängen als wunderbarer Ohrwurm, das erst sanfte, dann epische "Child Of Wonder" mit wunderbarem Wechselspiel von Hubauer und Morse weckt Erinnerungen an die herausragende SPOCK'S BEARD-Großtat "Snow".
Über den Albumkontext hinaus ist das verzweifelte "A Great Despair" mein allerliebster "The Great Adventure"-Ohrwurm. Erneut ist Eric Gillette der Star eines Songs, den er mit seinem fantastischen Gitarrenspiel (dieses Riff!) und seiner wundervollen Stimme in andere Sphären hievt.
Das düstere, wunderbar vertrackte "Freedom Calling" nimmt den Faden von "A Dark Melody" auf und geht deutlich in Richtung Progressive Metal a la DREAM THEATER, bevor die Sonne das Dunkel durchbricht und mit "A Love That Never Dies" das Finale eingeläutet wird, das pure Hoffnung versprüht. Die epische Wiederholung der Harmonien sorgt für solch wohlige Gänsehaut, dass man bei den letzten Tönen Freudentränen vergießen möchte.
Berührender Progressive Rock in Perfektion
Neal Morse, Mike Portnoy, Randy George, Bill Hubauer und Eric Gillette präsentieren sich erneut als eingespielte, absolut homogene Einheit, die unter Leitung von Morse als gefestigte Band aufspielt. Dass der volle, warme Klang die Musik dieses ambitionierten Werkes perfekt unterstreicht, versteht sich da beinahe von selbst.
Über 105 Minuten lang verweben THE NEAL MORSE BAND Themen, Melodien und kontrastierende Stimmungen miteinander, sorgen für Schrecken, Verzweiflung, Hoffnung und Erlösung, berühren Seele, Herz und Ohren auf eine ganz besondere, unnachahmliche Weise, die zu Tränen rührt und glücklich macht. Wer, außer Neal Morse und seinen Mitstreitern, ist denn heute noch dazu fähig?
Tracklist
CD 1
Overture
The Dream Isn’t Over
Welcome To The World
A Momentary Change
Dark Melody
I Got To Run
To The River
The Great Adventure
Venture In Black
Hey Ho Let’s Go
Beyond The Borders
CD 2
Overture 2
Long Ago
The Dream Continues
Fighting With Destiny
Vanity Fair
Welcome To The World 2
The Element Of Fear
Child Of Wonder
The Great Despair
Freedom Calling
A Love That Never Dies
Band
Neal Morse (vocals, keyboards, guitar)
Mike Portnoy (drums, vocals)
Randy George (bass)
Bill Hubauer (keyboards, vocals)
Eric Gillette (guitar, vocals)