Geschrieben von Sonntag, 22 Mai 2011 17:04

Long Distance Calling & Nihiling – Berlin, Cassiopeia


longdistancecalling-berlin


Bei Bullenhitze und saugeiler Stimmung spielen LONG DISTANCE CALLING ein bärenstarkes Konzert im Cassiopeia – wir waren bei diesem tierischen Ereignis dabei.

Ohne Zweifel, LONG DISTANCE CALLING ist die beste deutsche Post-Rock-Band. So erstaunt es wenig, dass das kleine Cassiopeia an diesem Dienstagabend bis in den letzten Winkel ausverkauft ist. Während draußen auf dem ehemaligen RAW-Gelände zwischen Kletterturm und Skatehalle bei angenehmen 20 Grad die untergehende Sonne begossen wird, schießt das Quecksilber im Cassiopeia bereits in ungewohnte Höhen. Zwar ist der Saal bei den Hamburgern NIHILING nur etwa zu zwei Dritteln gefüllt, allerdings reicht der 45-minütige Auftritt des blutjungen Sextetts locker aus, die Temperatur in die Höhe zu treiben.

Die Musik von NIHILING besteht im Kern aus instrumentalem Post Rock der Marke „zehn Minuten lange Songs gaaanz langsam aufbauen und bloß keine Melodien rein“ – von diesem langweiligen Einheitsbrei hebt sich die Band aber zum Glück angenehm ab, indem geschickt Screamo-Parts eingeworfen werden, die durch ihr tollwütiges Getobe große Kontraste bilden und ihrerseits wieder durch sphärische Cleangesangs-Passagen aufgelockert werden.
Das Geschrei ist nicht jedermanns Geschmack, wie man in der Umbaupause aus den Hofgesprächen raushören kann, jedoch bilden gerade diese Gegensätze das Interessante in der Musik von NIHILING. Langweiligen, höhepunktlosen Post Rock der oben beschriebenen Sorte kann ja jeder machen. Mir bleiben die sechs Nordlichter auf jeden Fall positiv im Gedächtnis.

In der Umbaupause beginnt die Drängelei. Auf der Stahlrohrtreppe, die den im Obergeschoss liegenden Eingang mit dem Hof verbindet, vor der Bar, an den Toiletten, und vor allem im Saal. Noch bevor LONG DISTANCE CALLING überhaupt anfangen, steht das Publikum im schon jetzt über dreißig Grad heißen Saal bereits Schulter an Schulter. Die Band eröffnet mit dem Opener „Into The Black Wide Open“ ihres aktuellen, selbstbetitelten Albums – und es scheint keinen einzigen Menschen im Publikum zu geben, der nicht jeden Song der Band kennt.
Augenblicklich ist die Masse auf hundertachtzig. Jede Körperbewegung jedes Einzelnen verrät totale Hingabe zur Musik und genaueste Kenntnis der Songs. Ich persönlich tu mich schwer damit, einen Songtitel zu kennen, wenn ich selbigen nicht im Refrain mitgrölen kann. Die Fans von LONG DISTANCE CALLING aber wissen Bescheid, wenn Bassist Jan „Invisible Giants“, „Aurora“ und „Timebends“ ankündigt – großartig!

Durch glasklaren Sound und dezentes, nicht übertriebenes Licht kommen die emotionsgeladenen Kompositionen der Band zusätzlich gut zur Geltung. Ein großes Lob gebührt dem Tonmann dafür, dass er die PA nicht bis zur Kotzgrenze ausreizt – wie oft leidet man als Zuschauer unter übersteuertem Krach, der die Musik in knisterndem Tinnitus begräbt! Für eine Band wie LONG DISTANCE CALLING, die allein kraft ihrer Instrumente und geschicktem Einsatz von Melodie, Rhythmus und kleinen elektronischen Helferleins große Welten erschaffen, ist dies ein ungeheurer Gewinn, der sich ungefiltert auf das Publikum überträgt.

Schon nach einer halben Stunde herrscht eine durch die überwältigend gute Stimmung zusätzlich aufgeheizte Mordshitze in dem kleinen Saal – ey, achtzig Grad müssen das gewesen sein, echt jetzt! Das Wasser beginnt allmählich von der Decke den Zuschauern auf die Köpfe zu tropfen; das gewaltige Verlangen nach einem neuen Bier wird nur durch die noch gewaltigere Musik gezügelt. LONG DISTANCE CALLING spielen den Gig ihres Lebens, die Ansagen zwischen den Songs zeugen von aufrichtiger Ehrfurcht und purem Glück. Mehrmals grinst Gitarrist Flo seine Kollegen mit einem „Alter, ich hab noch nie so geschwitzt!“-Blick an und als die Münsteraner nach 75 Minuten noch zwei Mal für Zugaben auf die Bühne müssen und selbst dann kaum von den euphorisierten Zuschauern in den Backstage gelassen werden, weiß man, dass dieser Abend etwas ganz Besonderes war. Eindeutig das bisher beste Konzert in diesem Jahr.

Fotos © BurnYourEars / Fabien Blackwater