1983 veröffentlichten ACCEPT ihren Meilenstein „Balls To The Wall“. Und es gab damals nicht viele Scheiben, die häufiger ihre Runden auf dem Plattenspieler in meinem unaufgeräumten Jugendzimmer drehen durften, als dieses Meisterwerk mit dem ikonischen, schwarz-weißen Cover. Während die meisten „Heavies“ auf den Titelsong schworen, waren es bei mir eher die melodischen Stücke wie „Losing More Than You’ve Ever Had“, die mich restlos begeisterten und die ich so oft hörte, dass ich wohl jedes Gitarrenlick sowie jeden Seufzer und jedes Kreischen von Udo Dirkschneider auf dieser Platte zutiefst verinnerlicht hatte.
Hätte der frühere ACCEPT-Sänger anlässlich der (leicht verspäteten) Jubiläumstour zum 40. Geburtstag „Balls To The Wall“ mit seiner Band U.D.O. (bzw. DIRKSCHNEIDER) einfach nur neu eingespielt, ich hätte dem vermutlich keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Doch die Tatsache, dass sich der deutsche Godfather of Metal auf der Scheibe die Vocals sämtlicher Songs mit zum Teil namhaften, mit ihm befreundeten Gastsängerinnen und -sängern teilt, hat mich dann doch neugierig gemacht.
Insofern ist es für mich ein interessantes Experiment. Kann mich „Balls To The Wall Reloaded“ positiv überraschen? Oder werde ich die ganze Zeit über nur denken, „früher war alles besser“?
Ich bin gespannt ...
Balls To The Wall (feat. Joakim Brodén - SABATON)
Schnell fällt auf: Sämtliche Lieder werden von der U.D.O./DIRKSCHNEIDER-Instrumentalfraktion praktisch originalgetreu wiedergegeben, ohne irgendwelche Schnörkel, und im Vergleich mit der doch etwas angestaubten Originalversion gewinnen die Songs soundtechnisch unheimlich an Druck. Zudem ist Udo Dirkschneider nach wie vor gut bei Stimme und kann die Stücke vermutlich im Tiefschlaf fehlerlos darbieten, ohne dass sie mit den alten Aufnahmen einfach nur identisch wären.
Was den ersten Gastsänger angeht: Ich bin kein SABATON-Fan (die Kriegsthematik und die schunkelige Musik sind einfach nicht meins), hätte Joakim Brodén aber gegönnt, bei „Balls To The Wall“ etwas mehr aus dem Schatten von Udo heraustreten zu können. Joakim fügt sich songdienlich, jedoch eher unauffällig ein und übernimmt vorrangig ein paar ziemlich gepresst wirkende Parts. Solide Neueinspielung dieser zeitlosen Metal-Hymne – nicht viel mehr, aber auch nicht weniger.
London Leatherboys (feat. Biff Byford - SAXON)
Uff! Die Idee, „London Leatherboys“ mit einem Freund von der Insel umzusetzen, macht natürlich Sinn. Doch leider hat mir Biffs Stimme, bei allem Respekt und aller Sympathie für den SAXON-Frontmann, nie wirklich getaugt. Beim ersten Hören stellt sie für mich sogar eine Art Fremdkörper dar, inzwischen gewöhne ich mich langsam daran. Dennoch für mich eher ein Kandidat zum Skippen.
Fight It Back (feat. Mille Petrozza - KREATOR)
„Now, If You Hate It - You Gotta Fight It Back“! Passt thematisch zu Mille wie die Faust aufs Auge, und dass der Song gut abgeht, kommt seinem thrashig-punkigen Geshoute natürlich ebenfalls entgegen. Vielleicht motiviert das Ergebnis ja den ein oder anderen jüngeren KREATOR-Fan, sich mal eingehend mit „Balls To The Wall“ zu befassen. Ein Ohrenschmeichler ist es allerdings nicht – und wahrscheinlich einer der Songs, an denen sich am ehesten die Geister scheiden werden. Außerdem fehlt Udos infernalischer Schrei zum Einstieg. Ich geb's zu: Da war mir das Original deutlich lieber.
Head Over Heels (feat. Nils Molin - DYNAZTY)
Song Nummer 4 – langsam wird's Zeit, eine Begründung für die ganzen Vorschusslorbeeren zu finden. Und siehe da: Nils Molin, der aktuell mit seiner Power-Metal-Band DYNAZTY ordentlich durchstartet, macht seine Sache wirklich gut. Der Schwede legt ja gerne eine etwas theatralische Art zu singen an den Tag, was gar nicht schlecht zu diesem Song passt. Natürlich ist die Diskrepanz zwischen seiner und Udos dominanter Stimme enorm. Doch wenn man sich darauf einlässt, wächst das Ding mit jedem Durchlauf – und „Head Over Heels“ ist ja ohnehin eine Wahnsinnsnummer! Geiler Chorus – die Stimmungskurve steigt!
Losing More Than You’ve Ever Had (feat. Michael Kiske - HELLOWEEN)
Wow – jetzt aber! Wie schon beschrieben, ist „Losing More Than You’ve Ever Had“ einer meiner früheren Lieblingstracks – und plötzlich hat dieser melodische Rocker wieder das Zeug dazu, eine ganz prominente Position in meinem persönlichen Ranking einzunehmen. Mit Michael Kiske von HELLOWEEN hat sich Udo einen Kompagnon mit ins Boot geholt, der sich diesen Song auf wunderbare Weise zu eigen macht.
Obwohl beide Stimmen derart unterschiedlich sind, ergänzen sie sich vor allem beim Refrain dermaßen gut, dass ich mir dieses Stück erstmal in Dauerschleife anhören musste. Yep – allein schon für diese Neuaufnahme hat sich die ganze Geschichte bereits gelohnt!
Love Child (feat. Ylva Eriksson - BROTHERS OF METAL)
Mit Ylva Eriksson gibt’s nun die erste weibliche Stimme auf dem Album zu hören, und auch sie liefert sehr gut ab. „Love Child“ gehörte nie zu meinen Favoriten, doch die Metal-Schwester von den schwedischen BROTHERS OF METAL stellt mit ihrem rauen, aber klaren Timbre einen guten Gegenpart zu Udo dar. Durchaus stark, kann man gut hören!
Turn Me On (feat. Danko Jones)
Turnt mich leider nur bedingt an. Auch „Turn Me On“ war mal einer meiner Lieblingssongs und Danko Jones ist eine coole Socke, dennoch passt die rockige Attitüde des Kanadiers nicht so richtig zu dieser stampfenden, eher ungewöhnlichen Nummer. Ist denn niemand auf die Idee gekommen, mal bei Mr. Lordi in Finnland anzuklopfen? Der Labelkollege und ESC-Monsterman hätte bestimmt auch Bock gehabt.
Losers And Winners (feat. Dee Snider - TWISTED SISTER)
Holy Moly – das zweite absolute Highlight dieser Scheibe! 1983 war „Losers And Winners“ in meinen Ohren fast sowas wie Speed Metal, bevor die immer schneller aufspielende Konkurrenz dafür sorgte, dass das Stück mehr oder weniger in Vergessenheit geriet. Ich hätte nicht im Traum erwartet, dass ein neuer, zeitgemäßer Sound der Nummer wieder derart Leben und Vitalität einhauchen würde!
Dee Snider entpuppt sich als absolute Idealbesetzung – noch nie habe ich den früheren Frontmann von TWISTED SISTER derart aggressiv singen hören, und er ergänzt sich mit Udo perfekt. Seit langem mal wieder ein idealer Song, um beim Autofahren die Anlage aufzureißen und ungehemmt mitzublöken. Hach! Gute alte Zeit!
Guardian Of The Night (feat. Tim „Ripper“ Owens - KK´s PRIEST)
Es folgt ein weiteres Stück, bei dem ich erstmal leicht irritiert die Ohren anlegen musste. Tim „Ripper“ Owens (ehemals auch JUDAS PRIEST und ICED EARTH) steigt mit ziemlich schnarrendem Gesang in diese melodische, nicht ganz so bekannte Nummer ein. Gefiel mir anfangs nicht wirklich, doch meine Skepsis ist inzwischen verflogen. Genau genommen hat „Guardian Of The Night“ durch die Neuaufnahme sogar deutlich an Intensität gewonnen.
Winter Dreams (feat. Doro Pesch)
Nicht das erste Duett von Udo und Doro – ein balladesker Song, der hart am Kitsch schwimmt, aber auch einfach nur wunderschön ist. Doro interpretiert ihre Parts eher zurückhaltend, doch spätestens beim Refrain wird klar, warum es „Winter Dreams“ mehr als verdient hat, auch auf den Playlists der jüngeren Generationen zu landen. Schade, dass das Konzept der ganzen Scheibe nur einen Song pro Nase vorsieht – von der Metal Queen hätte ich auf diesem Album gerne noch mehr gehört.
Fazit
Puh – das war jetzt echt lang, und alle, die bis hierher durchgehalten haben, dürfen sich erstmal selbst auf die Schulter klopfen! Ich wiederum frage mich, ob nach all der Rumkrittelei eine 8-Punkte-Empfehlung glaubhaft und angemessen ist. Ja, ist sie – und hätte Udo das komplette Album nur mit Doro Pesch, Dee Snider und Michael Kiske eingesungen, hätte ich womöglich sogar die Höchstnote für „Balls To The Wall Reloaded“ gezückt!
Drei Dinge wurden mir deutlich vor Augen geführt. Erstens: Neueinspielungen können tatsächlich einen Mehrwert haben. Zweitens: ACCEPT waren vor 42 Jahren ihrer Zeit weit voraus und haben stilprägende Metal-Songs komponiert, die – mit dem richtigen Sound – auch heute noch perfekt funktionieren. Und: Udo Dirkschneider, von vielen stets als „Schreihals“ abgetan, hat 1983 auf „Balls To The Wall“ eine unfassbare Gesangsleistung abgeliefert, die in Kombination mit diesen Songs unerreicht ist.
Udo wird demnächst 73 – wenn er irgendwann von der Bühne geht, entsteht eine Lücke, die nicht zu schließen sein wird.
Anspieltipps: „Losers And Winners“ / „Losing More Than You’ve Ever Had“ / „Head Over Heels“ / „Winter Dreams“
Tracklist:
1. Balls To The Wall (feat. Joakim Brodén - SABATON)
2. London Leatherboys (feat. Biff Byford - SAXON)
3. Fight It Back (feat. Mille Petrozza - KREATOR)
4. Head Over Heels (feat. Nils Molin - DYNAZTY)
5. Losing More Than You’ve Ever Had (feat. Michael Kiske - HELLOWEEN)
6. Love Child (feat. Ylva Eriksson - BROTHERS OF METAL)
7. Turn Me On (feat. Danko Jones)
8. Losers And Winners (feat. Dee Snider - TWISTED SISTER)
9. Guardian Of The Night (feat. Tim „Ripper“ Owens - KK´s PRIEST)
10. Winter Dreams (feat. Doro Pesch)
DIRKSCHNEIDER Line-Up:
Udo Dirkschneider - Gesang
Andrey Smirnov - Gitarre
Sven Dirkschneider - Schlagzeug
Dee Dammers - Gitarre
Peter Baltes - Bass
Balls To The Wall 40th Anniversary Tour
(Termine im deutschsprachigen Raum)
26. Februar 2025 Wien (AT), SiMM City
27. Februar 2025 München, Backstage
28. Februar 2025 Leipzig, Haus Auensee
16. März 2025 Berlin, Huxleys Neue Welt
17. März 2025 Frankfurt, Batschkapp
25. März 2025 Pratteln (CH), Konzertfabrik Z7
26. März 2025 Stuttgart, LKA Longhorn
27. März 2025 Oberhausen, Turbinenhalle
28. März 2025 Hamburg, Große Freiheit 36
29. März 2025 Geiselwind, Eventhalle
30. März 2025 Geiselwind, Eventhalle